Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze
Die Mühle von Völlenerfehn mit dem Müllermeister Ulrich Steen und seiner Familie etwa um 1928, auf die wir in einem späteren Artikel noch einmal ausführlich eingehen werden. Es ist ein sogenannter Wallholländer. Das getrocknete Korn konnte direkt vom Dachboden des Müllerhauses über den Wall in die Mühle zum Mahlen gebracht werden. |
Dann kam Papa und wollte mich für die letzten Ferienwochen nach Völlenerfehn, in sein Heimatdorf, zu Verwandten bringen. Die hatten noch mehr Kühe und noch mehr zu essen, meinte er. Frühmorgens wanderten wir los, auf weichen Sandwegen durch blühende Heide. In Völlenerfehn zeigte Papa mir dann die Schule, in der es zu seiner Zeit regelmäßig Senge gegeben habe. Er zeigte mir auch das kleine Haus, in welchem seine Eltern gewohnt hatten und er geboren worden war. Über der Türe hing noch ein kleiner verwitterter, hölzerner Vogel. Papa sagte, sein Vater habe diese Friedenstaube geschnitzt. Der Großvater sei Schiffszimmermann gewesen und jeden morgen, im Sommer und im Winter, schon morgens vor fünf Uhr den weiten Weg zu Fuß nach Papenburg zur Werft gegangen.
In Völlenerfehn ist es sehr schön, weil mitten im Dorf eine Mühle steht. Da kann man nicht einfach dran vorbeigehen, da muß man einfach stehen bleiben und zusehen, wie sich ein Flügel nach dem anderen hoch in den Himmel dreht. Ich fragte Papa, ob irgendwann mal ein Kind versucht habe, auf einen Mühlenflügel zu klettern, um dann in die Runde zu fliegen. Aber Papa sagte, auf den Mühlenberg dürfe kein Kind hinauf. Ein Junge sei früher einmal von einem Flügel erwischt worden und sofort tot umgefallen.
Wir besuchten unsere Verwandten, und überall tranken wir Tee. Am Ende des Dorfes wohnte Papas Schwester, meine Tante Gesine. Sie sagte "Dorchen" zu mir, und dann hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. In der Stube neben der Wanduhr hing ein glitzernder Perlenkranz in einem Glaskasten. Der Kranz gehörte ihrem kleinen Dorchen, das nur ein Jahr alt geworden war. Deswegen weinte Tante Gesine. Sie nahm den Kasten von der Wand, und ich durfte hineinsehen. Auf einem Glanzbildchen mit Vergißmeinnicht war in ein Herzchen das Bild vom kleinen Dorchen geklebt, darunter Geburts- und Sterbetag geschrieben. Sehr schön sah das aus mit dem Perlenkranz darum. Tante Gesine hatte ihn vom Friedhof wieder weggeholt und in den Glaskasten setzen lassen.
Papa sagte, Tante Gesine habe es schwer. Sie weinte oft wegen Elso. "Elso" hieß ihr Mann, der im Krieg gefallen war. Sie zeigte uns ein Bild von ihm, das letzte, in Soldatenuniform. Er sei sofort tot gewesen, eine Kugel habe ihm die Halsschlagader durchgeschossen. Nun stand sie mit ihren drei kleinen Jungen allein in der Welt. Papa schimpfte wie so oft über diesen unglückseligen Krieg.
Zuletzt kamen wir ins Grote Gatt. Hier wohnten Tante Gretchen und Onkel Friederich. Tante Gretchen war Mamas jüngste Schwester und ihr am meisten ähnlich. Sie lachte und meinte, nun käme endlich ein Mädchen, das auf ihren kleinen Bernhard, der im Kinderwagen lag, aufpassen könne. Der kleine Bernhard gefiel mir, und ich durfte ihm dann auch immer das Fläschchen geben. Sein größerer Bruder Frerich war vier Jahre alt und hatte Angst vor mir. Er konnte kein Wort hochdeutsch sprechen oder verstehen und wollte am Tisch nicht neben mir sitzen. Papa fuhr von Papenburg aus wieder nach Lennep.
Ich schlief allein in einem winzig kleinen Hinterstübchen in einem Butzenbett, worin es muffig feucht roch. Das kleine Fensterchen konnte nicht geöffnet werden. Überhaupt konnte in dem alten Bauernhaus, wo prächtige Gardinen vor den Fenstern hingen und viele Töpfe mit bunten Blumen auf der Fensterbank standen, kein Fenster geöffnet werden. Sie waren gar nicht dafür eingerichtet.
Tante Gretchen war lieb und immer fröhlich. Sie brachte dem Onkel Friederich und auch mir jeden Morgen ein Täßchen Tee ans Bett. Ich habe ihr gesagt, daß eine Maus über die Kommode gelaufen sei. Tante Gretchen lachte laut: vor einem Mäuschen brauche ich doch keine Angst zu haben!
Jeden Mittag gab es auch hier grüne Bohnen mit Speck. Nach dem Essen und Teetrinken setzte sich immer ein schwarzer Fliegenschwarm auf den Tisch. In der Küche summte es dauernd von den vielen Fliegen. Die aufgehängten Fliegenfänger waren in diesen heißen Sommertagen im Nu schwarz davon. Viele Fliegen habe ich mit der Hand gefangen und in eine Flasche eingesperrt. Totmachen konnte ich sie nicht.
Nach Hause schrieb ich eine Postkarte: "Mir geht es gut. Tante Grete ist lieb. Jeden Morgen suche ich die Birnen auf. Sie sind süß und saftig." Vor dem Einschlafen weinte ich nur, weil ich so allein war. Wenn die Birnen nicht gewesen wären, hätte ich wohl richtiges Heimweh gehabt. Vom Groten Gatt aus sah ich die Züge ins Rheinland vorbeifahren. Nach zwei Wochen waren die Ferien um, und Papa holte meine beiden Vettern und mich nach Hause. Neun Jahre war ich nun, und ich war glücklich, daß ich an meinem Geburtstag wieder zu Hause in Lennep war.
Eines Tages war der 1. Weltkrieg aus. Man schrieb das Jahr 1918. Der Winter wurde bitterkalt. Im nächsten Jahr kam Onkel Detert aus Flachsmeer zu Besuch. Er brachte ein Schlachtpaket mit. Abends durfte ich länger aufbleiben und hörte, was sie "van oll Tieden" erzählten.
Papa war der älteste von acht Geschwistern gewesen. Gleich am Tage nach seiner Schulentlassung habe seine Mutter ihn an die Hand genommen und zu fremden Leuten gebracht, wo er sich sein Essen und seine Kleidung selbst verdienen mußte. Einen blanken Taler, das waren drei Mark, habe er als Jahreslohn erhalten. Papa sagte, an der Hand seiner Mutter habe er geweint, weil er nicht von zu Hause weggewollt hätte.
Dann habe er es bei dem Doktor, bei welchem er auf dem Kutschbock fahren mußte, doch gut gehabt. Aber fast jede Nacht habe er aus dem Bett gemußt, weil der Doktor zu Kranken gerufen und Papa anspannen mußte. Und Lene, das Dienstmädchen, habe dann noch verlangt, daß Papa jeden Morgen, genau wie der Doktor, in die gegenüberliegende katholische Kirche ginge. Lene habe immer gesagt, er sei ein Heide. Aber Papa war ja evangelisch. Das schlimmste sei aber gewesen, daß er bei Regen und Sturm und bei bitterster Kälte oft stundenlang bei dem Pferd warten mußte, wenn ein Kind geboren wurde und die Geburt sich so lange hinzog.
Dann sei er von dem Doktor weggegangen und habe die Post nach Jemgum gefahren. Bei Wind und Wetter, jedesmal mit der Fähre über die Ems hin und zurück. Weil er aber auch da nicht genug verdiente, sei er in eine Ziegelei nach Jever gegangen. Er habe so schwer arbeiten müssen, daß er am Ende Blut gespuckt habe. Als später unser Erdkundelehrer über das oldenburgische Jever sprach, deren Bewohner dem Fürsten Bismarck an jedem Geburtstag ein weiteres Kibitzei mehr schickten und dazu schrieben: "Je länger, je lewer, die Bewohner von Jever", dann fiel mir jedesmal ein, daß Papa dort früher so schwer arbeiten mußte, daß er Blut spuckte.
Onkel Detert erzählte u.a. Spukgeschichten aus dem Moor. Jeden Abend habe an dem langen Weg, der durchs Moor führte, ein alter Mann gesessen und ständig mit dem Kopf genickt. Einige Leute haben sogar gesehen, daß der Mann ihnen mit dem Arm zugewinkt hätte. Niemand habe sich abends mehr über diesen Weg getraut. Was mochte das für ein Mann gewesen sein ? Mir kroch die Angst den Rücken herauf. Na, eines Abends war der Onkel dann mit einigen Männern aus dem Dorfe auf den Kerl losgegangen, mit dicken Knüppeln bewaffnet. Als sie dann aber davorstanden, war es nur ein Dornbusch gewesen, dessen Zweige sich im Winde auf und ab bewegten. Wir alle lachten. Im dunklen Schlafzimmer hatte ich dann aber doch wieder etwas Angst und kuschelte mich ganz an Netti heran.
Wenn man vom Bahnhof Steenfelde ins Dorf hinunterlief, ging man direkt auf die Gastwirtschaft von Friedrich Eekhoff zu. Hier gab es eines der wenigen Telefone in Steenfelde, welche damals noch per Handvermittlung geschaltet wurden. Es hatte die Nummer vier und war so eine Art öffentliche Telefonzelle für die Dorfbevölkerung. |
Tante Anna war eine fixe Frau. Sie heiratete ihren Hinrich und wohnte fortan in Kamphusen bei Ihren. Auf dem Pferd die beiden Söhne Harm (gefallen) und Dieterich. Vor dem Pferd "lüttje Knecht" Hermann Meyer, "Hinrichs Süsters Kind". |
Onkel Folkert war auch bei der Reichsbahn angestellt. Ähnlich wie Tante Gesine beklagte er den Tod eines seiner Kinder, welches auf dem Steenfelder Friedhof beerdigt worden war. |
Archiv Gem. WOL, Bleeker/Junker
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