[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 22.08.1991


 

Musikalisches Paradies inmitten von Feldern und Wiesen

 

Johann Klosterhuis sitzt an einem Hofberg-Harmonium und entlockt mit seinen geschickten Händen dem alten, wiederhergestellten Instrument verschiedene Melodien.


 

Der Musikus braucht nur den Schemel zu drehen, und schon sitzt er vor einem weiteren, dem Estay-Harmonium, das einen ganz anderen Klang hat. Dieses Instrument wurde einstmals in Brattleboro, USA hergestellt und über Holland in Europa vertrieben. Als Johann Klosterhuis es im Emsland kaufte, war es in einem erbärmlichen Zustand. Das ganze Oberteil war aus Platzgründen einfach abgesägt worden!


 

In dem wohl ältesten Harmonium seiner Sammlung, einer "American" mit nur einem Stimmbrett, fand Johann Klosterhuis diese holländischen Zeitungen vom Freitag, 3. Januar 1890 aus Rotterdam.


 

 

Eine wahre Kunst, das Harmonium zu stimmen

In Völlenerfehn gibt es eine ganze Reihe Straßen, die für einen geschichtsbewußten Bürger des Overledingerlandes aussagekräftige und wichtige Namen tragen. Es gibt die Focko-Ukena-Straße genauso wie die Cirksena-Straße, die Okko-ten-Broek-Straße und die Wierenga-Straße liegen auch gleich nebenan, und nicht nur der historische Adel kommt zu seinem Recht.

Wenn ich von der Völlenerfehner Hauptstraße abbiege und die Störtebeckerstraße entlangfahre, denke ich an Seeräuber und die Hansestädte, an rauhbeinige Matrosen und wilde Kapitäne oder an feinbetuchte Kaufleute und viele Schreiberlinge an Stehpulten in kalten Contoren. Diese Gedanken werden schon nach einigen hundert Metern abgelöst durch den Blick auf ein Uhrenfachgeschäft, das hier mitten zwischen goldgelben Getreidefeldern und grasenden Kühen auf grünen Weiden gar nicht in die Landschaft paßt. Zumindest vermutet man es hier in der ostfriesischen Weite nicht.

Johann Klosterhuis ist 71 Jahre alt. Er hat sein Geschäft seit einigen Jahren an den Schwiegersohn übergeben. Natürlich hilft er ab und zu noch aus. Aber normalerweise hat er jetzt endlich die Zeit, sich einem Kindheitstraum zu widmen. Damals, als er als kleiner Junge in Papenburg zum ersten Mal einen Drehorgelspieler sah und die Töne hörte, die dieser Mann mit Hilfe einer Kurbel in dem bunten Kasten erzeugte, damals hatten sich diese jahrmarktsähnlichen Melodien tief in seinem Gedächtnis eingeprägt.

Als Kind hatte Johann nicht genügend Groschen, um sie dem Drehorgelspieler zu geben, damit er noch einmal ein Lied spielte. Dieser Mann ließ die Melodien nur gegen klingende Münze ertönen. Mit Musik Geld verdienen - ein Traum, dem heute noch viele junge Mädchen nachrennen. Johann aber wollte kein Musiker werden und auch kein Lokomotivführer. Ihm hatte es die mechanischen Getriebe angetan. Die sich drehenden Rädchen, die Kupplungen und pneumatischen Übersetzungen - überall mußte er seine Nase hineinstecken und alles genau austüfteln. Insbesondere die tickenden Chronometer übten einen geheimnisvollen Reiz aus. Es gab keine mechanische Uhr, die er nicht wieder zum "Gehen" oder "Laufen" bringen konnte.

Als Johann Klosterhuis sich von seinem ersten selbstverdienten Geld eine gebrauchte Quetschkommode leisten konnte, interessierte ihn das Innenleben dieser Handharmonika viel mehr als das Erzeugen von Melodien. Er nahm das verstimmte Instrument komplett auseinander. Viele metallene Zungen lagen auf einem Brett nebeneinander. Wie schon bei seiner Mundharmonika konnte er nun jedes einzelne Stimmblättchen anpusten und in Schwingung versetzen. Er tüftelte solange an den Zungen aus Messing herum, bis die "Handorgel" wieder harmonische Akkorde von sich gab.

Heute, nach all den Jahren im Geschäft und in der Werkstatt, erfüllt er sich seit einigen Jahren seinen Kindertraum. Er bastelt täglich an den Instrumenten, die durch Luft Metallplättchen in Schwingungen versetzen. Es sind jetzt keine Mundharmonikas mehr und auch keine Schifferklaviere oder Akkordeons, sondern diese altertümlichen Kästen, die zwei Pedale haben. Diese Pedale müssen mit den Füßen hin- und herbewegt werden. Damit wird über zwei Gurte ein Blasebalg zusammengedrückt und auseinandergezogen. Ein sogenannter "Schöpfer" zieht die Luft (schöpft sie) aus dem Hauptblasebalg und gibt sie an den Windkasten ab. Von hier aus gelangt die Luft an das Stimmbrett.

In vielen kleinen Holzkanälen liegen die metallenen Zungen, die jetzt durch den Luftstrom in Tonschwingungen versetzt werden. Wenn solch ein hölzerner Instrumentenkasten, Harmonium genannt, nicht mehr gebraucht und letztendlich im leeren Schweinestall abgestellt wird, freuen sich die Holzwürmer. Überall Kannen sie in Ruhe fressen. So entstehen zwischen den schmalen Holzkanälen für die einzelnen Metallzungen neue Löcher, Löcher, die den Luftstrom plötzlich ableiten auf eine danebenliegende Zunge. Und schon piepst und krächzt solch ein gequältes Instrument fürchterlich. Es Kannen keine harmonischen Akkorde mehr gespielt werden.

Jetzt schlägt die Stunde unseres Bastlers und Tüftlers. Er zerlegt das altersschwache und holzwurmgeschädigte Instrument in alle Einzelteile. In der Werkstatt von Johann Klosterhuis sieht es dann ganz furchtbar aus, aber nur für den Laien. Denn unser musischer Mechaniker weiß ganz genau, wo was liegt und wo welches Teil nachher wieder eingebaut werden muß.

Vorher aber gibt es eine Menge zu tun. Die hölzernen Teile des Rahmens und Gestells müssen ausgebessert werden. Anschließend werden alle Metallzungen einzeln gesäubert, und die Filzteile der Klappen sind sowieso altersbrüchig und kommen ganz raus. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, jeden einzelnen Arbeitsgang ausführlich zu beschreiben. Nur soviel sei noch erwähnt: Das Stimmen der Metallzungen ist eine Kunst für sich! Bei der einen muß vorn ein bißchen abgekratzt werden, damit sie heller schwingt, und bei der anderen muß hinten eine Klitzekleinigkeit abgeschrappt werden, damit sie dunkler klingt.

Ein alter Harmoniumbauer aus Kirchheim an der Teck schrieb 1988 an Johann Klosterhuis: "Ich habe nie mit einem Stimmgerät gearbeitet. Ich habe einen Oktavenzirkel um die Stimmgabel "a" gelegt und dann die Oktave mit Quint und Quart reingestimmt. Es ist eine wahre Kunst, ein Instrument wie das Harmonium mit seinen 10 bis 12 Zungenreihen reinzustimmen. Sie müssen bedenken, daß auf einer Harmoniumtaste zehn verschiedene Töne liegen. Das ist anders als beim Klavier, wo eine Taste nur einen Ton erzeugt."

Es gäbe noch so viel über all die verschiedenen Arten der kleinen Schwester "Harmonium" zu erzählen, die neben der "Königin der Instrumente", der Kirchenorgel, ein bescheidenes Leben in Kapellen und Konfirmandensälen fristeten. Zuletzt wanderten sie in Privathäuser, dann in die Schuppen und sogar Hühnerställe, wo sie langsam vergammelten. Johann Klosterhuis hat sie dort wieder herausgeholt, sie restauriert und gestimmt und in sein kleines, gut temperiertes Privatmuseum gestellt. Achtzehn Stück sind es mittlerweile geworden, und er hat sie alle liebgewonnen, so daß sie durch eine Alarmanlage geschützt werden. Verkaufen wird er kein Harmonium, denn ein jedes Instrument hat einen anderen Klang.

Manch Kunde im Uhrengeschäft wundert sich, wenn aus der Küche oder Werkstatt mitten am Tag plötzlich die melodischen Töne eines Harmoniums erklingen. Nur wenige wissen von diesem liebenswerten musikalischen Paradies inmitten von Feldern und Wiesen im Westoverledinger Ortsteil Völlenerfehn.


 

Der kleine Blasebalg besteht aus weichem Leder. Da diese Innenteile selten oder nie mit Lederfett behandelt wurden, bildeten sich an den Falten leicht Löcher und Risse.


 

Dies ist der große Blasebalg, aus dem die Luft "geschöpft" wird. Fast 95 % aller Instrumente sind "Sauglufter". Sie sind leider sehr oft verstimmt.


 

Fotos(10): Heinze

Die Hände des Meisters setzen die Tasten in das fast fertig restaurierte Harmonium ein.


 

Das hübsche Notenbrett eines Harmoniums von Brüning & Bongardt aus Barmen. Diese Firma hatte sich auf "Drucklufter" spezialisiert, die nicht so leicht verstimmt waren. Mit einem ähnlichen Instrument der gleichen Firma, das Johann Klosterhuis in einem ehemaligen Schweinestall fand, begann vor sechs Jahren die Leidenschaft des Uhrmachers im Ruhestand.


 

Wobkea Klosterhuis geborene Buurmann aus Steenfelderfehn spielt leidenschaftlich gern auf den alten Instrumenten. In ihrer Küche steht ein amerikanisches Harmonium namens Carpenter, ebenfalls in Brattleboro, USA, hergestellt. Im ehemaligen Kinderzimmer steht ein 1895 von der bekannten Firma Mannborg gebautes Harmonium mit herrlichen Kerzenhaltern. Auf unserem Foto hat sie sich von ihrer Alltagsarbeit freigemacht und sitzt im Wohnzimmer an dem Hildebrandt-Harmonium, welches 1903 im Ostteil Deutschlands an der Unstruth hergestellt wurde.


 

Vasenähnliche Linienführung auf den Pedalen eines Worcester-Harmoniums, einer "Reed Organ" von 1909, die von G. A. Goldschmeling in Amsterdam verkauft wurde.


 

Das verschlungene gotische "C" in den Pedalen des "Carpenter"-Harmoniums aus Battleboro, USA.


 

Ganz unten steht auf den mit Brüsseler Samt bespannten Pedalen der Name "Hofberg".


 

Im Jugendstilmuster "Blüten einer Blume" sind die Pedale des Harmoniums "Angelus" gestaltet.


 

Fotos (2): Baumann

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