Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze
So friedlich ging es in den dreißiger Jahren auf der Brücke bei Tiedecken zu. Rechts im Hintergrund das Verlaatshaus von Westrhauderfehn sowie ein einsamer Radfahrer. Heute brausen in jeder Stunde hunderte von Autos auf der B 438 in Richtung Ostrhauderfehn, und der kleine Johann Hündling würde bei den neumodischen Benzinabdämpfen sicherlich nicht mehr so freudig lachen. |
Endlich ein männlicher Erbe! Bürgermeister und Sielrichter Heye Reinhard Watzema aus Breinermoor war glücklich über seinen Stammhalter Johann, der ihm nach den drei Töchtern im Jahre 1909 geboren wurde. Aus dem reich verzierten Kinderwagen lächelt der Stolz der Familie in die Maiensonne. |
Ein zweirädriger Sportkinderwagen aus der Kaiserzeit. Links der 1905 geborene Bernhard Oltmanns aus der 2. Südwieke, Westrhauderfehn, und im gefederten Wagen mit hölzernen Stützen sein Bruder Heinrich. |
Der kleine Reinhold Börg liegt im Frühjahr 1942 friedlich in seinem Kinderwagen. Im Hintergrund die 2. Südwieke in Ostrhauderfehn. Viele Kleinkinder wurden in den Kinderwagen gelegt, damit die Mutter ihren vielfältigen Arbeiten nachgehen konnte. |
Das neueste Modell im Angebot: Ein klappbarer Sportkinderwagen! Das vierrädrige Sondermodell wird von der 1919 geborenen Gertrud Ulpts, Rajen, etwas skeptisch begutachtet. |
Dieses Foto eines modisch-rasanten, städtischen Kinderwagens fand Wilhelm Lalk auf dem Flohmarkt in Leer. Auf der Rückseite steht: "Ernst, genannt Häschen, August 1923". |
Etwa um 1940 wurde Christa Peper aus dem Kinderwagen genommen und der Oma Hermanna Schaa, geb. Küür auf den Schoß gelegt, um ein Foto für das Ostrhauderfehner Familienalbum anzufertigen. |
Der Wonnemonat Mai ist so kühl und kalt zu Ende gegangen wie er begonnen hat. "Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte", heißt es in einem bekannten Gedicht von Eduard Mörike. Aber bislang streifte kein freundliches Lüftchen die Menschen, die der Liebe harrten. Vielmehr war es ein Bauernmonat: Mai kühl und naß füllt den Bauern Scheuer und Faß.
Bleiben wir einen Moment bei der Liebe. Wenn wir allein an die vielen Liebesbriefe denken, die immer wieder geschrieben werden, könnten wir die Zeitungsseiten leicht füllen. Fehntjer Liebesbriefe, so jedenfalls meine Erfahrungen, sind allerdings oft unbeholfen, kurz und banal, selten mit einigen Wörtern der Gefühlsduselei versehen. Die Fehntjer waren praktisch denkende Menschen und verschwendeten nicht allzuviel Zeit auf sogenannte Liebesgefühle. Ob die seltsamen Hasen oder Kaninchen, die heute manches Auto am Heck "zieren", ebenfalls ein Ausdruck dieser wenig gefühlsbetonten Liebesbeziehungen sind, wage ich nicht zu entscheiden. Die Aufschriften an manchem LKW finde ich allerdings doch reichlich deplaciert.
Das Ergebnis war und ist immer noch das gleiche. Nach einer festgelegten Zeit meldete sich ein neuer Menschenbürger an. Der Storch hatte der Mama ins Bein gebissen. "Dor is een lüttjet Wicht, een lüttje Jung upstaon" heißt es in der ostfriesischen Muttersprache, wenn die Storchentante ihre Pflicht getan hatte.
Das Baby wurde gewickelt und in eine Wiege gelegt. Eine Wiege, so belehrt uns das Lexikon, ist ein Kinderbett auf Schaukelbrettern. Die bekannteste Form ist der "Querschwinger", bei dem der auf gebogenen Kufen ruhende Wiegenkorb seitwärts bewegt wird. Beim "Längsschwinger" verlaufen die Kufen parallel zur Längsachse. Bei der "Ständerwiege" hängt der Bettkasten zwischen zwei feststehenden Pfosten. An der Decke hängt die "Hängewiege". Oft sind diese hölzernen Kinderwiegen mit magischen Zeichen versehen, um böse Geister abzuschrecken.
Soweit das auskunftfreudige Lexikon mit seinen Wortschöpfungen aus der Boxersprache. Fehlt eigentlich nur noch die "tiefschwingende" Wiege unter der Gürtellinie oder die "k.o.-Wiege" für besonders unruhige Babys. Was stand nun aber in den Fehntjer Pullenhütten ? Es war weder eine Wiege noch ein Kinderwagen. Das Baby kam ein Jahr lang zu Mama in die elterliche Butze. Danach war dann entweder die Butze der Großeltern leer, oder man mußte eine kleine Butze von den beiden anderen abtrennen, um eine Kinderbutze zu schaffen, in der dann oft genug später bis zu vier Kinder oder manchmal sogar mehr ihr nächtliches Domizil hatten.
Etwas anders war die Lage bei den reichen Bauernfamilien in den umliegenden Dörfern. Da gab es eine richtige Wiege, wie sie schon Jesus im Stall von Nazareth behelfsweise in der Krippe vorfand, wie man unschwer in einigen Museen wie Weener, Jever und Cloppenburg feststellen kann. Diese hölzernen Wiegen waren gekonnte Schreinerarbeiten mit vielfältigem Schnitzwerk, also fast künstlerische Meisterwerke zu entsprechendem Preis. Der Quatmannshof im Cloppenburger Freilichtmuseum zeigt ein besonders schönes Stück auf der Diele vor der Butzenwand.
Als die junge Pastorenfrau Julia Catharina Fimmen am 12.März 1891, also vor nunmehr einhundert Jahren, in Ostrhauderfehn von einem gesunden Knaben entbunden wurde, mußte für diesen neuen Erdenbürger eine Schlafgelegenheit geschaffen werden. Frau Pastor, die gebürtig aus der Messestadt Leipzig kam, hatte einige Schwierigkeiten, die Gewohnheiten ihres ostfriesischen Mannes anzunehmen. Die Butzen im provisorischen Pastorenhaus konnte sie gar nicht leiden, und auch eine Wiege hatte keinen Platz in einem der beiden kleinen Zimmer. "Auf vier Rädern, im gefederten Wagen, der just den Platz einnahm, der sonst dem Lehnstuhl gebührte, ruhte ein kleiner Herr des Hauses, der durch energisches Schreien sein volles Recht behauptete." Später stand der neumodische Kinderwagen dann am offenen Herdfeuer, und im Sommer den ganzen Tag im Freien, wie Frau Pastor es in ihrer Lebensgeschichte vom "Pfarrhaus im Moor" erzählt.
Die Kinderwagen kamen also aus der Stadt. Sie waren schon vor 1900 im Angebot einiger Versandhäuser und konnten per Post und Bahn geordert werden. Selbst in kleinsten Dörfern des Overledingerlandes gab es am Ende des vorigen Jahrhunderts die ersten Kinderwagen in den Bauernhäusern. Es waren "Wiegen auf Rädern", um es lexikalisch zu formulieren. Ob die Mägde der Bauersleute die Kinderwagen allerdings auf den sandigen Wegen zum Kaufmann schoben, muß bezweifelt werden.
Auf den oft grundlosen Fehnwegen ging das sowieso nicht. Hier hätte "Bootswiegen" für Schifferbabys ihre Berechtigung gehabt, aber die sind meines Wissens damals nicht erfunden worden. Auf dem Fehn schliefen die Babys noch lange in den Butzen. Wenn das erste Kind groß genug war und das zweite geboren war, kam das erste Kleinkind zur Oma in die Butze. Später spielten die Kinder dann in der Küche auf dem steinernen Fußboden und erkälteten sich oft genug mit tödlichem Ausgang.
Erst um die Jahrhundertwende konnten sich die zu Geld gekommenen Fehntjer ebenfalls die neumodischen Kinderwagen leisten. Das beweisen unsere Fotos. Gefederte Wiegen auf vier großen Rädern waren "in". Die Anzeigen in der "Gartenlaube" und anderen Zeitschriften boten die tollsten Modelle an. Ob es irgendwo ein Kinderwagenmuseum gibt ? Ich weiß es nicht. Kinderwagen sind wohl nicht so wichtig wie Autos. Oder ?
Die 1957 in Glansdorf verstorbene Gebke Pruin geb. Spieker hält ihr Enkelkind Hermann auf dem Schoß. Kleinkinder wurden nicht nur in Ostfriesland viel und oft hin- und hergetragen. Das Besondere an diesem Foto: Oma sitzt in der Küche genau vor dem Butzengang. Links und rechts sind die verschlossenen Türen der Schlafgemächer unserer Altvorderen zu erkennen. |
Dieses tragbares Kinderkörbchen gab es auch auf Rädern. Corry Beekman lächelt 1936 in die Groninger Frühjahrssonne. |
Neben der Plümerschen Gaststätte, gegenüber der Westrhauderfehner Kirche, paßte einst Erika Thoben auf ihre kleine Schwester Christa auf. Kaum zu glauben, aber in den dreißiger Jahren sah das Fehn dort, wo heute die Volksbank steht, so ländlich-sittlich aus. |
Jürgen hat sich spaßeshalber im Puppenkinderwagen versteckt, was Brigitte (stehend) mit einem etwas gequälten Lächeln für diese Fotoaufnahme akzeptiert. Die kleine Ulrike im Sportkinderwagen "mit Radiofach" findet das mächtig interessant und würde am liebsten auch hinüberklettern. |
Zur Verfügung gestellt von Hildegard Albert, Anni Deepen, Anni Drieling, Johann Hündling, Karl Heinz Nußwaldt, Johanne Poppen, Rita Schwede, Dina Taute und Wilhelm Lalk.
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