[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 20.12.1990

Eine ziemlich "anrüchige" Geschichte
Als Wochenpflegerin in die Heimat zurückgekehrt

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Eine ziemlich "anrüchige" Geschichte
Als Wochenpflegerin in die Heimat zurückgekehrt

Da machte sich auch Joseph aus der Stadt Nazareth auf in das jüdische Land nach Bethlehem, mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. Und es kam die Zeit, da sie gebären sollte, und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.

Maria, allein in einem Stall, "denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge", nur den Joseph bei sich, der nicht einmal Wasser heiß machen konnte, weil es in der Scheune keinen Ofen gab, keine Hebamme, keinen Doktor, keine Nachbarin, keine Anverwandte. Aber sie hatte Windeln bei sich. Im Neuen Testament heißt es im Lukas-Evangelium: "Und ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt."

Der stolze Opa Wilhelm Jacobs mit seiner Enkeltochter Anita. An der Wand steht ein wunderschöner Schrank, für den man heute viel Geld bezahlen müßte, wenn er in einem Antiquitätengeschäft stünde.

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Ich habe einmal nachgesehen, was über Windeln in der Bibel steht. In einem alten, ledergebundenen Schmöker "Biblische Real- und Verbal-Concordanzien", gedruckt zu Jena im Jahre 1750, steht unter dem Stichwort "Windeln": "Was Windeln seyn, darein die neugeborenen Kinder gewickelt werden, ist bekannt (Hiob 28, 9)." Jetzt wissen wir also, daß die alten Israeliten und Ägypter sich mit dem Wickeln von Neugeborenen (und auch mit dem Einbalsamieren ihrer Toten) gut auskannten. Sie hatten diese Methode sogar zu einer perfekten Hochkultur entwickelt.

Voller Lebensfreude blickt die kleine Erdenbürgerin aus ihrem modernen Kinderbett in die vertraute Umgebung einer altostfriesischen Küche.

Die frühen Menschheitskulturen waren gar nicht so dumm und "hinterm Mond", wie unsere Jugend dies oft meint. Wahrscheinlich liegt es an den Lehrern, die in den Schulen diesen langweiligen Geschichtsunterricht von gestern erteilen. Die Israeliten hatten genügend Erfahrung im Umgang mit der Geburt. "Dein Geschlecht und deine Geburt ist aus dem Kanaaniter-Lande," heißt es in Hesekiel 16, Vers 3 und 4, "dein Vater aus den Amoritern und deine Mutter aus den Hethitern." Und weiter beschreibt der Prophet Ezechiel, daß die Geburt folgendermaßen abgelaufen sei: Der Nabel wurde durchschnitten, das Baby gebadet, mit Salz eingerieben und anschließend "in Windeln gewickelt".

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Nur als Randbemerkung sei hier erwähnt, daß es sich nicht um ein neumodisches Badesalz gehandelt haben dürfte, obgleich die vorderasiatischen Völker liebliche Wohlgerüche über alles zu schätzen wußten. Hier ist sicherlich ganz normales Küchensalz gemeint, welches auch der ostfriesisches Bauer benutzt, wenn nach der Geburt bei einem schwachen Kalb der Kreislauf angeregt werden soll.

Na, wirst du wohl liegenbleiben und nicht so rumhampeln, mag Oma Anna Schoon, geb. Oltmanns bei dieser Aufnahme gedacht haben.

Bleiben wir noch bei der Windel. Erstaunlicherweise steht im großen Brockhaus unter diesem Stichwort nichts, gar nichts, weder in den Bänden von 1885 noch in denen von 1952 und auch nicht in der neuesten Ausgabe. Dabei weiß doch heute fast jeder junge Ehemann etwas über Molton- und Mullwindeln, falls er diese seiner Frau aus Umweltgründen kauft. Wenn viele "Luuren", wie der Ostfriese diese Tücher nennt, auf der Leine hängen, dann ist Waschtag gewesen. Im Winter oft eine kalte und anstrengende Arbeit. Die meisten Mütter benutzen deswegen heute Fertigwindeln, ganz gleich, ob die für "boys" oder die für "girls".

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Maria mußte die Windeln vom Jesuskind alle paar Stunden wechseln. Ob der Joseph die schmutzigen Windeln gewaschen hat? Draußen vor dem Stall in der Nähe eines Brunnens? Er hatte noch keine Waschmaschine und keinen Trockner, die er als moderner Hausmann hätte einsetzen können, und Maria war für diese Arbeiten noch zu schwach.

Wie haben das nur unsere ostfriesischen Frauen gemacht, deren Männer an Bord waren von Schiffen, die irgendwo auf den Meeren herumschipperten? Nun, bei dem hiesigen Kinderreichtum gab es immer eine Schwester, eine Cousine, da half die Mutter, die Oma oder die Tante. Sie kam ins Haus, machte die anfallenden Arbeiten, kochte, wusch die Wäsche, paßte auf die anderen "Blagen" auf.

Wer nun ganz allein stand, mußte eine Hilfe "hüüren", mußte sich eine Wochenhilfe mieten. Als ich im Sommer über die Zerstörung des Müllerhauses und die Rettung des Müllererben schrieb, fiel mir dieser Begriff zum ersten Mal auf: Was ist das, eine "Wochenpflegerin"? Wie kann man das werden ? Ich habe Wobbine gefragt.

Die Eltern und die Großmutter von Wobbine: im Hintergrund stehend der Vater, Schiffer Wilhelm Laurenz Jacobs. Links die älteste Tochter Antine, dann die Mutter Janna, geb. Freese mit Wilma auf dem Schoß. Daneben Oma Wobke Daenekas, geb. Brinkema mit Wobbine, und rechts steht etwas verwackelt Claas, der während der Aufnahme den Kopf bewegte.

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Als sie aus der Schule kam, konnte auch sie, wie fast alle Mädchen vor ihr, nur in den Haushalt anderer Leute gehen, um zu lernen und um ein ganz klein bißchen Geld zu verdienen. Aber mit 18 Jahren entschloß sich die junge Frau, dorthin zu gehen, wo es mehr Geld gab, nämlich in die Stadt. Hannover war ihr erstes Ziel. Nach drei Jahren Haushalt hatte sie soviel Geld gespart, daß sie im Henriettenstift einen Kursus für Wochenpflegerinnen belegen konnte.

Fünf Schülerinnen des Henriettenstifts Hannover haben ihre alle an einem Sonntag geborenen Pfleglinge auf dem Arm. Zweite von rechts ist Wobbine Jacobs.

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Nach bestandener Prüfung besaß Wobbine Jacobs aus Westrhauderfehn nun ein Zertifikat, das ihr manche Tür öffnete. Sie erhielt gut dotierte Jobs, unter anderem in Berlin, wo sie bis 1944 blieb. Gegen Ende des 2. Weltkrieges gab es eine von tausend neuen Verordnungen, die besagte, daß Haushalts- und Wochenpflegerinnen jetzt in den Munitionsfabriken gebraucht würden. Wobbine mußte aber "dringend" nach Hause, um ihr "kranke" Mutter im Haushalt zu unterstützen. Nebenbei verdiente sie sich hier und da in ostfriesischen Familien ein bißchen Kleingeld, möglichst bar auf die Hand, denn der Feind und das Kriegsende näherten sich bedrohlich.

Wieviele Windeln Wobbine Jacobs während ihrer Berufsjahre als Wochenpflegerin wechseln und waschen mußte, das hat sie nie zusammengezählt. Wahrscheinlich würde ein einfacher Taschenrechner dafür auch gar nicht ausreichen. Sie erinnert sich aber gern an all die vielen kleinen neuen Erdenbürger, denen sie nach gelernter Vorschrift die Tücher um den Unterleib wickelte. Fast von jedem ihrer Pfleglinge hat sie wenigstens ein, wenn nicht sogar mehrere Fotos.

Über die Windel als Tuch hat sie so recht eigentlich noch gar nicht nachgedacht. Natürlich, sie oder die noch schwache Mutter wickeln ein äußerst kostbares Gut in solch ein weißes Nesseltuch, ein kleines Stück neues Leben. Fast wie einen Diamanten oder ein güldenes Schmuckstück, welche beim Juwelier in ein Stück Samt eingeschlagen werden.

Das alte Testament sieht in der Windel "ein Bild des Gesetzes, darein Israel (ein)gewickelt (ist), (um mit) Gott ein angenehm (wohlgefälliges) Leben führen" zu können. Und in der Real-Concordanz von 1750 heißt es über die Windel, daß "Christus sich darein winden ließ, damit wir durch ihn das Kleid der Gerechtigkeit erhalten möchten".

Wochenpflegerin Wobbine Jacobs mit Helga Duin auf dem Schoß. Dahinter der große Bruder Heiko Duin, der sich gerade den Arm verletzt hatte.

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