[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 27.09.1990

65 russische Gefangene kalkten den Moorboden
Theos Weg vom Schlotgraben auf sein 150-PS-Lokomobil

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65 russische Gefangene kalkten den Moorboden
Theos Weg vom Schlotgraben auf sein 150-PS-Lokomobil

Straßen, Straßennamen, Namen für Wege im Hammrich und auf der Gaste, unbekannte Namen für Nichtostfriesen, ungewöhnliche Namen selbst für Einheimische - wir könnten das ganze Jahr über nur über diese Straßennamen schreiben. Dreimal ist Ostfriesenrecht, heißt es so schön, also wollen wir uns heute zum dritten Mal mit einem Straßennamen beschäftigen.

Der eine oder andere hat sich vielleicht beim Autofahren gewundert, daß es bei Friedeburg ein "Rußland" gibt und auch einen Ort "Marx". Wer es nicht glaubt, soll auf der Straßenkarte nachsehen. Im östlichen Zipfel Ostfrieslands, der so ein bißchen ins Oldenburgerland hineinreicht, gibt es tatsächlich diese Orte.

Auch wir im Overledingerland haben unsere "Russenstraße". Sie führt vom Rajen ab ins Moor, Richtung Domäne. In der Nähe der Grenze zwischen Westoverledingen und Rhauderfehn, schon im Bereich der Ortschaft Großwolderfeld, zweigt diese Straße mit dem seltsamen Namen ab.

Hier haben also die russischen Kriegsgefangenen gearbeitet, die beim deutschen Vorstoß 1914/18 ins östliche Europa in die Hände der kaiserlichen Infanterie und Kavallerie gelangten. Normalerweise waren all diese Kriegsgefangenen in den Lagern bei Soltau und Hameln interniert. Für bestimmte Aufgaben konnten aber Arbeitskommandos zusammengestellt werden. Solch ein Kommando war im "Gefangenenhuus" an der Ellernweg stationiert. Damals waren die Fenster vergittert. Als Wärmequelle diente der Pferdestall, der auf der andern Hausseite untergebracht war. Einmal waren vier Gefangene ausgerissen, das gab eine Aufregung!

Der Gefangenenvizeaufseher hieß Holtinghausen, der mit einer Draisine zur Arbeitsstelle kam. An all diese Einzelheiten erinnert sich Theodor Weber aus der Pastor-Kersten-Straße 14 (das Haus steht hinter den anderen Häusern!). Und das, obgleich er morgen 85 Jahre alt wird. Er weiß noch genau, daß er mit 13einhalb Jahren ins Moor kam. Er mußte Schlote graben, einen Meter tiefe und 65 cm breite Gräben. Trotz seines jugendlichen Alters schaffte er bald 33 m am Tag. Zur Erinnerung: Solch ein Arbeitstag begann morgens um 6 Uhr und endete um 18 Uhr. Der Stundenlohn betrug 65 Pfennige. Für einen Monatslohn konnte man sich ein Paar Arbeitsschuhe kaufen, dann aber hatte man kein Geld mehr fürs Essen.

Theodor Weber wird 85 Jahre alt. Er ist immer noch rüstig und kann sich gut an die Kultivierungsarbeiten am Russenweg erinnern.

Jeden Morgen sah Theo, wie die Aufseher 65 russische Kriegsgefangene zum Kalkstreuen auf die umgebrochenen Moorflächen brachten. Eines Tages fragte Moorverwalter Sachse, wer Lust hätte, auf der Dampfmaschine zu arbeiten, dort sei der Mann erkrankt. Theo war noch neu bei den Männern im Moor, aber fürchten tat er sich nicht. Er meldete sich. "Gut, Theo, wirf deine Schaufel weg und melde dich bei Fligiel." So hieß der Maschinenführer, zu dem Theo nun ging. "Du willst angelernt werden ?" fragte Fligiel und machte ein grimmiges Gesicht. Theo ließ sich nicht einschüchtern.

Schon bald stand er täglich auf dem unförmigen Lokomobil. 40 Stück Torf mußte unser neuer Maschinenführer ins Feuer werfen. Das reichte gerade, um den riesigen Pflug von einer Seite auf die andere zu ziehen (etwa 50 m). Den Torf mußte er selbst von unten auf die Maschine werfen. Leonhard Fligiel arbeitete nun in der Schmiede, obgleich er nicht mal ein Pferd beschlagen konnte. Dort wirkte und werkte auch Bernhard Poppen, der von Wittrock, Papenburg, gekommen war. Theo beobachtete seine Maschine gewissenhaft, denn der Zeiger des Manometers durfte nicht über die "1" kommen. Er regulierte mit dem Dampfhebel und mit der Kupplung, und das Ungetüm von Pflug zog ruckend seine Furchen durch das Ur.

Die späteren Lokomobile glichen den Sauriern der Frühzeit. Die "Magdeburg" aus dem Jahre 1953 hatte 430 PS am Seil und schaffte mit ihrem Schwesterlokomobil "Thüringen" drei Hektar pro Tag. Dabei verdampfte sie 6000 Liter Wasser und verbrauchte 60 Zentner Steinkohle. Jedes einzelne Lokomobil wog stolze 21 Tonnen. Sie können heute noch im Heseper Moormuseum (Emsland) besichtigt werden.

Es waren gut 999 ha Moor, die dort am Russenweg lagen. Jeden Morgen um halb sechs mußte Theo seine Maschine anheizen, auf den Tender klettern, nach dem Wasser gucken, "de Oelglasen" kontrollieren und für erneuten Torfvorrat sorgen. Um sieben Uhr kamen die Arbeiter (die Kriegsgefangenen waren mittlerweile entlassen worden). Theo kümmerte sich nicht um die andern, denn er war mit seinem Lokomobil vollauf beschäftigt. Das Umdrehen der Maschinen war am kompliziertesten. "Ploeg un Eit" mußten gedreht werden, damit sich der Pflug wieder vier Meter tief in den Grund fressen konnte. Etwa 50 m vor seinem Lokomobil war ein "Anker van Holt". An diesem langen Seil zog sich sein Lokomobil langsam vor, Furche für Furche, und der Wickelapparat unter seinem Lokomobil kreischte herzerweichend bei der eintönigen Arbeit.

Eine Moorlokomotive der Firma Kemna aus Breslau, wie sie 1913 von der "Königlich Preußischen Moor-Administration", Aurich, für Wiesmoor nach Katalog (Abb.) bestellt wurde.

Alle 25 m lagen Torfhaufen, die mit Pferd und Wagen zu den Lokomobilen gebracht wurden. Einmal setzte Funkenflug solch einen Haufen in Brand, und Theo sollte den Schaden aus eigener Tasche bezahlen, aber er wehrte sich erfolgreich. Bei starkem Regen oder bei Gewittern verkrochen sich die Leute in die riesigen Räder, denn ein Verdeck gab es damals noch nicht. Wenn es größere Probleme gab, mußte Theo "Moorblasen", dreimal das langgezogene "tuuuut" hintereinander, dann kam der Oberrevisor Ritter, der im Schweizerhaus auf dem Dominalgut wohnte. Er hatte im Krieg 14/18 einen Arm lassen müssen und dann bei der Königlichen Mooradministration als Obermaschinist angefangen, obgleich er nur polnisch sprach. Wenn ein Seil abgerissen war, dauerte es bestimmt anderthalb Stunden, bevor die Arbeit wieder aufgenommen werden konnte.

Das Lokomobil der gegenüberliegenden Seite hat den Pflug in einer Probefurche gerade zu sich herangezogen. Wir erkennen deutlich das lange Seil, welches unter dem Lokomobil wie bei einer Winde (Winsch) mit ungeheurer Kraft aufgedreht oder aber locker abgerollt wird.

Acht Jahre hat Theo Weber sein 150 PS starkes Lokomobil gepflegt und beheizt. Dann war das Overledinger Dominalmoor östlich von Flachsmeer und Völlenerkönigsfehn tiefgepflügt bis hin zum Barkmeer. Nun hieß es Abschied nehmen. Zwar hätte Theo im Jahre 1929 mit nach Abelitz gehen können, wo erneut eine Tiefpflugmaßnahme anstand, aber seine Eltern wollten ihn gern auf ihrer Landstelle haben. Langsam tuckerten die riesigen Ungetüme von der Russenstraße über den Rajener Kanal bis nach Collinghorst. Bei Bungers Mühle wurden die großen Räder abmontiert und gegen kleine Eisenräder ausgetauscht. Weiter ging es bis zum Bahnhof Jhrhove, wo alles verladen wurde. Maschinenmeister Knoche ging mit nach Abelitz, die andern wurden entlassen.

Gern hätte Theo Weber bei "Klosterfehn" angefangen, wo seine Freunde Olli Dierksen und Jan Koester arbeiteten, Lambertus (Berti) Venema und Bremser Joke Stapelfeld. Die Lokomobile standen zuletzt dicht bei der Klostermoorbahn, und manchmal lagen die Seile über den Gleisen, das war gefährlich. Wenn eine Lore einmal aus den Gleisen sprang, wurde die einfach umgekippt, und die Leute holten sich den Torf ohne zu fragen. Als später zwischen dem Domänemoorgut und den Abelitzer sowie Wiesmoorer Moorgütern einmal Kartoffeln ausgetauscht wurden, ist Theo Weber als "Peerkutscher" noch einmal bei "seinem" Lokomobil gewesen.

Dieses vorsintflutliche Lokomobil wurde wohl nur zum Antrieb für Dreschmaschinen benutzt. Es steht in der Remise der Münchhausenscheune im Cloppenburger Freilichtmuseum.

Jetzt, zu seinem morgigen Geburtstag, ermöglichen wir ihm ein Wiedersehen mit dem Lokomobil der Firma Kemna aus Breslau.

Geschichtliche Anmerkung:

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und dem Verlust der überseeischen Kolonien im Jahre 1918 hatte die Urbarmachung von Ödlandflächen für die Weimarer Republik erste Priorität. Die Verbreiterung der Ernährungsgrundlage und die Entlastung des Arbeitsmarktes durch Beschäftigung von Erwerbslosen waren Gründe, die zum sogenannten "Dampfpfluggesetz" mit einem Etat von 2,6 Millionen Goldmark führten, welches der Preußische Landtag am 9.2.1924 beschloß. Es wurde die "Deutsche Ödlandkulturgesellschaft" (Dökult) gegründet. Sie wurde zusätzlich mit 5,2 Mill. Goldmark für Betriebsmittel ausgerüstet. Die Dökult besaß 16 Lokomobil-Paare, von denen - über die ehemalige "Königlich Preußische Moor-Administration" in Wiesmoor - ein Paar am Russenweg im Overledingerland eingesetzt war.

Ein Tiefpflug der Firma Ottomeyer. Zwischen 1950 und 1960 wurden 14000 Hektar Ödland des Oster- und Westermoores bei Scharrel im Saterland kultiviert.

Fotos: Heinze

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