[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 30.08.1990

Neukläßler zogen ehrfurchtsvoll die Mütze
Die Sienbohntjes versüßten den Start in das Schulleben

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Neukläßler zogen ehrfurchtsvoll die Mütze
Die Sienbohntjes versüßten den Start in das Schulleben

Wieder ist ein Jahr vergangen. Das Kind ist jetzt so alt, daß es in die Schule muß. Mit einigen Ängsten haben die Eltern bzw. die Mütter die bürokratischen Hürden überwunden. Anmeldung und Untersuchung sind vorbei. Die notwendigen Utensilien sind gekauft, wobei man mit soviel Geld nicht gerechnet hatte. Nun naht der Höhepunkt: Der Einschulungstag mit der Schultüte.

Vater hat sich extra frei genommen, neue Batterien für die Videokamera gekauft, zusätzlich der Mama einen Fotoapparat in die Hand gedrückt und ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, daß doch bitte die Sonne scheinen möge.

So gut hatten es die Mädchen und Jungen früher nicht. Das älteste Kind wurde zwar auch herausgeputzt, soweit es die finanziellen Mittel zuließen, aber alle nachfolgenden Geschwister mußten mit gebrauchten Sonntags- und Schulanziehsachen vorlieb nehmen. Für den ersten Gang zur Schule hatten weder Vater noch Mutter Zeit. Es gab genügend ältere Nachbarskinder, die diese Aufgabe übernehmen konnten.

Ehrfurchtsvoll blieb der Neukläßler vor dem erhabenen Schulgebäude und dem ehrfurchteinflößenden Lehrer stehen und zog die Mütze. Gerhard Löning, langjähriger Schulleiter in Hahnentange, hat es so aufgeschrieben:

"So, Hilke, nu breng du de Jung man eben hen!", sagte meine Mutter zur Groot Maid Hilke Kuper, nachdem sie mir den schwarz-weiß-gescheckten Ranzen auf den Rücken gelegt hatte. "Un de Püüt kriggt de Mester." Damit gab sie ihr eine braune Spitztüte mit Rosinen. "Sienbohnen" hießen die bei uns. Sie waren Bonbon-Ersatz, die auch mein Vater für uns Kinder mitbrachte, wenn er vom Pferdemarkt nach Hause kam und aus diesem Anlaß den Kindern eine Kleinigkeit schenken wollte.

"Un dat du de Mesters alltied fein Guten Tag seggst!" Damit war ich entlassen.

Auf diesem Foto erkennen wir links die ehemalige Fahrradhandlung von Wilhelm Eschen, Ostrhauderfehn, der 1931 an die Landstraße nach Idafehn, Ecke Werftstraße verzog (später Otto Noormann). Die Fahrradhandlung wurde nun zur Schmiede von Smidtbaas Arnold Stratmann. Seine Tochter Erna hatte den Schuhmachermeister Johann Taute geheiratet, der seine Werkstatt von Westrhauderfehn in das hier zu sehende Hinterhaus (rechts) verlegte. Das Gebäude links wurde 1945 bei der Ostrhauderfehner Brückensprengung schwer beschädigt. Es wurde später längs zur Straße wieder aufgebaut und dient heute als Schusterwerkstatt. Auf unserm Foto erkennen wir Ingrid Cornelsen und Egon Taute mit ihren Schultüten, die wegen der Kriegsjahre nicht ganz so gut gefüllt waren.

Bei der Schule wurde ich von Hilke zu den andern Schulanfängern gestellt, die neugierig von den "Großen" umringt wurden. Und dann ging sie auf den "lüttje Mester" Leding zu und übergab ihm die bewußte Tüte. Ich sagte den Lehrern fleißig "Guten Tag!", jedesmal, wenn sie in der Pause an mir vorbeikamen. Das hatte mir ja meine Mutter aufgetragen.

"Und nun wollen wir doch mal sehen, ob der Hahn auch gelegt hat," sagte Lehrer Ledig, als wir unsere Ranzen gepackt hatten und nach Hause gehen durften. "Da oben durch das Luk läßt er das fallen," sagte er und zeigte mit dem Zeigestock auf eine kleine Entlüftungsluke in der Holzdecke neben dem Torfschacht, durch den der Brenntorf vom Schulboden heruntergerumpelt wurde.

Der Lehrer öffnete das Lehrerpult, indem er den Deckel aufklappte und gespielt neugierig hineinschaute. Dann entnahm er dem Pultinneren eine braune Spitztüte, faltete sie auf und entnahm mit spitzen Fingern daraus für jeden ein paar Rosinen. "Sienbohntjes, die hat der Hahn gelegt", sagte er. Damit waren wir entlassen. Mit "Sienbohntjes" wurden wir jeden Tag bedacht, bis der Vorrat erschöpft war.

Dieser Bericht von Rektor Gebhard Löning liegt im Schulmuseum Folmhusen. Der Fehntjer Kurier hatte schon im vorigen Jahr eine ausführliche Geschichte der "Schultüte" veröffentlicht, und ich war nun neugierig, was sich dort bei Familie Reuer weiter angesammelt hat.

Besonders auffällig ist das bislang älteste Foto in der Museumssammlung aus dem Jahre etwa um 1910. Es stammt aus Zittau, aber die Personen sind nicht bekannt. Ein weiteres Foto kommt aus Lauban in Schlesien, wo ein Helmut Müller 1924 eingeschult wurde und eine große Schultüte erhielt. Die nächsten beiden Bilder stammen aus Emden aus den Jahren 1928 und 1932, und auch ein weiteres Foto von 1928 erhielt Karl Reuer ebenfalls aus Emden.

Das bislang älteste Foto mit einer Schultüte aus dem Schulmuseum Folmhusen. Es stammt aus Zittau und dürfte etwa um 1910 entstanden sein.

Dazu schrieb Ruth Günther: "Als meine Schwester 1926 in die Wallschule Emden eingeschult wurde, hatte sie noch keine Schultüte bekommen. Ich dagegen erhielt 1928 diese schöne blaue Schultüte mit dem Albumbild darauf. Der Inhalt bestand aus Obst und etwas Schokolade, Mal- und Schreibutensilien, weil meine Mutter eine Gegnerin von Lutschstangen und Bonbons war. Wie mir meine zwei Jahre ältere Schwester später berichtete, war diese Schultüte gar nicht von meinen Eltern sondern von meiner schlesischen Lieblingstante gestiftet worden.

Diese Schultüte bekam ich aber erst zu Hause, da meine Mutter fürchtete, daß viele Kinder arbeitsloser Eltern keine Schultüte kaufen konnten. In Emden herrschte damals große soziale Not, nicht nur unter den arbeitslosen Hafenarbeitern."

Die Leiterin des Archivs vom Schulmuseum Folmhusen, Wimoed Reuer geb. Snuis mit ihrer Schultüte, die sie 1949 bei ihrer Einschulung in Emden erhielt.

Aus diesem Bericht wird deutlich, daß die Schultüte in Ostfriesland nicht üblich war. Sie kam etwa in den zwanziger Jahren durch Verwandte (z.B. Patentanten) auch in unsere Gegend.

Üblich war in unserer abgeschiedenen Küstenregion seit dem vorigen Jahrhundert der Pflaumenbaum auf dem Schulboden. Der an den Außenwänden von Schulgebäuden wachsende Efeu wurde zu "Wurzeln des Pflaumenbaums". Manchmal waren es auch nur Wiemhaken ähnliche Halterungen an den Deckenbalken im Klassenzimmer, die als "Wurzeln" dienen mußten. Am Ende des ersten Schultages wurde nun der Pflaumenbaum geschüttelt, und anschließend verteilte der Lehrer ein paar getrocknete Pflaumen an seine neuen Schulkinder. Sie schmeckten lecker süß und waren deshalb eine köstliche Kostbarkeit, denn Zucker war damals sündhaft teuer und nur etwas für reiche Leute.

Erna Hesenius mußte ganz von der Dosewieke oben zur Untenender Schule Westrhauderfehn laufen, wo sie bei Frau Prigge am 1. April 1940 eingeschult wurde.

Ob Rosinen oder Pflaumen, ob prallgefüllte Schultüte oder einfache braune Papiertüte - der kommende harte Schulalltag sollte den neuen I-Männchen schmackhaft gemacht werden. Fritz Duken aus Flachsmeer erzählt: "Ich bin 1938 in Flachsmeer in die Schule gekommen. Meine Mutter brachte mich hin mit einer Sacktasche als Schulkasten und einer Einkaufstüte mit Zuckersachen. Die wurde der Lehrerin abgegeben. Sie schüttete alles in einen Behälter und verteilte es in den nächsten Tagen. Die braven Kinder bekamen mehr, die nicht so guten etwas weniger."

Das Schultor der Schule Großwolderfeld. Ängstlich und auch ein bißchen ehrfürchtig überschritten die Kleinen diese Schwelle zur Welt der Buchstaben und Zahlen.

Wenn im nächsten Jahr der Ausstellungsraum im Archiv (Sandersches Haus) des Schulmuseums fertiggestellt ist, wird es wahrscheinlich auch zu diesem Thema "Schulanfang" einmal eine Sonderausstellung in Folmhusen geben.

 

Eines der beiden Emder Fotos von 1928, die ein Kind mit Schultüte zeigen (von A. Roder, Emden).

Ruth Heikens, die 1928 in die Emder Wallschule eingeschult wurde, mit ihrer Schultüte, welche sie von ihrer schlesischen Lieblingstante erhalten hatte.

Zum Schulanfang

Hundertfünfzig Kinderaugen
Wollen Weisheit aus mir saugen.
Hundertfünfzig Kinderohren
Lauschen einem großen Thoren...

Hundertfünfzig Kinderhände
Heben sich empor zum Beten;
O, daß ich doch auch empfände,
Was empfanden die Propheten!

Hundertfünfzig runde Wangen
Wollen Liebkosung empfangen,
Doch die Ordnungsparagraphen
Bringen Tadel Euch und Strafen.

Fünfundsiebzig Kinderherzen
Wollen fröhlich sein und scherzen...
Über Euren Märchenauen
Werden düstre Wolken grauen!

Meine lieben kleinen Jungen,
Hütet Eure Plapperzungen!
Seid hübsch ruhig nun und leise,
So verlangt's die neue Weise!

Fünfundsiebzig kleine Männlein,
Käsehoch und noch ein Spännlein,
Schau'n auf mich als ihren Meister,
Bin selbst klein, Ihr kleinen Geister

Aus dem Ostfriesischen Schulblatt vom 15.Mai 1898.

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