Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze
Fehntjer Kurier vom 23.08.1990
Augenzeugen erinnern sich an
das Mühlendrama
"Ich hatte den Kamm noch
immer in der Hand"
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Der Bericht über die dramatischen Ereignisse im Müllerhaus Ende des 2. Weltkrieges (im Fehntjer Kurier vom 19. Juli 1990) haben verschiedene Zeitzeugen veranlaßt, sich zu melden, um Einzelheiten richtigzustellen.
Wochenpflegerin Wobbine Jacobs mit der 1937 geborenen Magret Müller im Garten des Müllerhauses in der Rhauderwieke. |
Eine Zeitzeugin lebt heute noch unter uns, die die damaligen Geschehnisse hautnah miterlebt hat: Die damalige Wochenpflegerin Wobbine Jacobs, heute verheiratete Schendel, wohnhaft im Rajen.
Sie erzählt:
Das Vorderhaus bestand aus acht Räumen: Der ehemals durchgehende Flur war aufgeteilt in einen Laden vorn und einer dahinterliegenden Karnsteh. Dann folgte links das Eßzimmer. Auf der Ostseite lag dort die Küche. Der Mittelteil bestand vorn aus einem schmalen Büro. Der dahinterliegende Raum war meine Kammer. Im Vorderhaus ganz links lag die "gute Stube", und in der rechten Vorderhausecke war das Elternschlafzimmer.
Ich saß vorn im Eßzimmer bei der Müllerfamilie, den Schwiegereltern von Halem und den beiden Soldaten. Sie waren aus Bremen und Esens gebürtig und kamen von Rückzugsgefechten aus Holland. Sie hatten sogar noch holländische Gulden in der Tasche, die sie auf dem Fehn umtauschen wollten. Die Füße taten ihnen weh, und sie waren müde und baten, im Stall eine zweite Nacht ausruhen zu dürfen. Sie waren zum Mittagessen eingeladen und zeigten Fotos von ihren Familien.
Herr von Halem war den ganzen Morgen bei einer Bestandsaufnahme im Laden von Meinhard Schoon gewesen. Der Bürgermeister hatte gemeint, daß in diesen knappen Zeiten das Material dort nicht unnütz herumliegen dürfe, solange wie Meinhard Schoon Soldat sei. Frau von Halem war schon am Morgen zu ihrer Tochter ins Müllerhaus gegangen, denn sie hatte Angst, weil die deutschen Rückzugstruppen und der Volkssturm hinter ihrem Haus und an anderen strategisch wichtigen Stellen mehrere Flakgeschütze aufgebaut hatten. Mittags fuhr Herr von Halem mit dem Rad von der 3.Südwieke/Ecke Rajen ebenfalls zum Müllerhaus, wo schon der Tisch gedeckt war. Herr von Halem machte es sich im Hörn am Fenster bequem und rauchte nach dem Essen noch eine Zigarre.
Auch ich durfte mir die Fotos anschauen, guckte aber vorher noch schnell zum Regulator und sah erschreckt, daß es schon 10 Minuten nach eins war. Sofort legte ich die drei Fotos beiseite, nahm Klein-Roelfi hoch und ging durchs Büro und durch mein Zimmer ins Elternschlafzimmer nach vorn, wo das Kinderbett stand. Ich legte ihn schlafen und ging wieder in meine Kammer, um mir noch die Haare zu kämmen.
Da fiel mit ungeheurem Getöse die Bombe aufs Haus. Ich dachte: "Nun ist es aus!" Mein zweiter Gedanke war: "Roelf!" Vor Staub konnte ich fast nichts sehen. Überall rieselte Korn vom Boden. Ich riß den Jungen aus dem Bett und sprang durchs kaputte Fenster nach draußen in den Garten. Die Küchenwand war herausgedrückt. Überall lagen Steine und Mauerbrocken. Unterm Vordach zur Karnsteh saß die Milchkontrolleurin Strenge. "Help mi! Help mi!", rief sie. Ich aber meinte, daß Frau Müller riefe "Roelfi, Roelfi" und antwortete, daß ich ihn sicher im Arm habe. Dann fragte die Milchkontrolleurin: "Hebben's 'n bitje Water ?" Ich aber lief am Stall entlang nach hinten , wo mir schon Prahms entgegenkamen.
Alle im Haus
Ihnen gab ich das Kind. Dabei fiel mir auf, daß ich den Kamm immer noch in der Hand hatte.
Über die Verlaatsbrücke kam Dr. Schünemann gelaufen und fragte, ob noch Menschen im Haus seien. Ich antwortete: "Alle". Wir liefen nach vorn. Schief und krumm ragten die dicken Balken vom Kornboden ins Eßzimmer. Nur die mittlere Mauer war stehengeblieben. Ich stieg über die Trümmer und erkannte Frau Müller an ihrer Schürze. Ich hob ihre Hand auf, die schlaff zurückfiel. "Da ist nichts mehr zu machen", hörte ich hinter mir eine Stimme.
Herr von Halem saß immer noch in seinem Hörn. Andere Helfer brachten ihn mitsamt des Sessels nach draußen. Jemand versuchte, die vielen Knöpfe an seinem blauen Hemd zu öffnen. Ich riß den Stoff einfach auseinander und spürte ein Metallstück. "Der ist ja noch bei Bewußtsein," rief Dr. Visher. "Schnell, einen Krankenwagen!". Ich wurde zur Drogerie geschickt, um den Feuerwehrwagen von Karl Schmidt aus Rajen herbeizurufen. Herr von Halem und der ebenfalls schwer verletzte andere französische Kriegsgefangene wurden auf den Boden des Feuerwehrautos gelegt. Ich stieg noch zu von Halem ins Auto und sagte ihm, daß sein Enkel Roelf lebe. Er lächelte mich an. Das werde ich nie vergessen.
Mittlerweile waren die Toten an das Kanalufer gelegt worden, von wo aus sie später in den Saal des Verlaatshauses gebracht worden sind. Der Zivilpole wurde auf der andern Seite in den Garten gelegt und später in Langholt beerdigt. Die beiden Soldaten wurden in Leer beerdigt und nach dem Krieg in ihre Heimatorte überführt.
Am Nachmittag des Unglückstages nahm ich Roelf mit zu meiner Schwester Wilma in die 1. Südwieke. Nach der Beerdigung hat Anna Dirksen ihn dann zusammen mit Zofia nach Weenermoor mitgenommen.
Ich habe mich oft gefragt, warum der Müller ausgerechnet an diesem Tage zum Mittagessen nach Hause kam, was sonst sehr selten vorkam. Und warum mußte Herr von Halem ausgerechnet an diesem Tag bei seiner Tochter zum Mittagessen kommen ? Und was wäre gewesen, wenn auch ich mir ausführlich die drei Fotos der beiden Soldaten angeschaut hätte? Warum hörte ich die innere Stimme: "Du mußt das Kind zu Bett bringen"? Oder: Was wäre gewesen, wenn ich mir n i c h t die Haare gekämmt hätte? Diese eine Minute hat mir - und Roelf - wahrscheinlich das Leben gerettet. Meine Lebensuhr war noch nicht abgelaufen.
Eine weitere Zeitzeugin ist Minna Strenge geb. Weers, die heute an der Papenburger Straße wohnt, genau an der Gemeindegrenze, denn das nächste Grundstück gehört schon zu Klostermoor. Sie erzählt:
Ich mußte für ein paar Tage den Milchkontrolleur Gerhard Strenge aus Rhaudermoor vertreten. Da viele Kühe im Frühjahr kalben, mußte die Milchkontrolle, natürlich unangemeldet, auch in der Mittagszeit durchgeführt werden.
Ich fuhr mit meinem Kasten hinten auf dem Rad zur Mühle. Als ich über die Brücke radelte, hörte ich schon die Flieger. Von der Karnsteh aus rief ich "Milchkontrolle!". Zofia kam aus der Küche, nahm einen Eimer und ging in den Stall zum Melken. Ich schaute noch einmal nach draußen, wo wohl der Flieger geblieben sei. Da passierte es. Schnell ging ich in die Hocke und hielt die Hände über den Kopf. Eine Mauer brach über mir zusammen.
Später hat mich Frau Prahm gefunden und mir geholfen, aus den Trümmern herauszukommen. Ich wurde nach Hause gebracht und legte mich zu Bett. Am nächsten Tag ging ich zu meinen Eltern nach Glansdorf, wo ich mich nach einigen Tagen von den Rückenschmerzen erholte.
Von seinem Vater hat sich Bernhard Struck die damaligen Ereignisse schildern lassen:
Bei uns in der Küche saßen ebenfalls zwei Soldaten in Luftwaffenuniform, die zur gleichen Einheit gehörten. Einer sei ein Feldwebel gewesen und habe plötzlich gesagt: "Da kommen ein Tiefflieger und ein Bomber, das ist was Besonderes", und schon habe es geknallt. Die Männer sind dann rübergelaufen und haben geholfen, die Trümmer wegzuräumen. Gärtner und Ortsbrandmeister Edzard Meyer rief plötzlich: "Hier lebt noch was!" Da hatten sie den französischen Kriegsgefangenen Jan gefunden. - Der deutsche Feldwebel ist noch etwas länger hiergeblieben, um die Formalitäten zu erledigen. Er sei dann bei Holterfehn in Gefangenschaft geraten und in der als Lager dienenden Turnhalle einige Zeit in Gefangenschaft gewesen.
Neben den wenigen Männern, die der Feuerwehr verblieben waren, gab es noch die Jugendfeuerwehr der Hitlerjugend sowie die dienstverpflichteten Mädchen und jungen Frauen der weiblichen Feuerwehr, zu denen Dienchen Meyer und Elsa Witzack gehörten. Sie brauchten aber nicht einzugreifen, denn es war kein Brand zu löschen. Außerdem bestand die Gefahr weiterer Tieffliegerangriffe. Die Helfer und Helferinnen vor Ort konnten auch nicht mehr tun, als die Unglücksstelle abzusperren.
Ein weiterer Zeitzeuge und ursächlich Betroffener ist Hermann von Halem, der Bruder der Müllerin Marianne geb. von Halem, der seine Schwester und seine Eltern, den Schwager und seine Nichte durch den Bombenangriff verlor. Er erzählt:
Nach Kriegsende am 8.Mai 1945 wurden deutsche Einheiten in zwei Gruppen in Schleswig-Holstein interniert. Ich war in der Kaserne von Leck dicht an der dänischen Grenze stationiert, wo ich mir große Sorgen machte, weil ich seit Monaten nichts von meinen Eltern und von meiner Schwester gehört hatte. Ende Mai entschloß ich mich, trotz fehlender Entlassungspapiere "auf Deubel komm raus" nach Ostfriesland zu fahren. Auf einem vollbeladenen Kohlewaggon der ehemaligen Deutschen Reichsbahn gelangte ich tatsächlich bis Ihrhove und von dort aus nach Westrhauderfehn. Hier erfuhr ich die ganze Tragödie von Rechtsanwalt Dr. Leewog, dessen Briefe an mich immer mit dem Vermerk "Unzustellbar" zurückgekommen waren.
Auf der Galerie der Rhauderwiekster Mühle läßt sich Hermann von Halem von seinem Schwager Roelf Fleßner Müller fotografieren. Im Hintergrund links das Haus von Kapitän de Buhr und rechts die Häuser von Steenhoff und Heselmeyer. |
Wenn es ihre Zeit zuließ, besuchte Wobbine Jacobs "ihren" kleinen Roelf in Weenermoor. Diesmal hatte sie einen Fotoapparat bei sich und knipste ein Bild. |
Hermann von Halem zu Besuch bei seiner Schwester im Müllerhaus an der Rhauderwieke. Für die Zeit der Aufnahme durfte er auf dem Müllerwagen Platz nehmen und so tun, als ob er die Futtermittel ausliefere. |
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