Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze
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Und es begab sich zu der Zeit, daß Maria und Joseph sich aufmachten um zum Sozialamt zu gehen. Und sie fanden keinen Platz in der Herberge, und die Unterstützung wurde ihnen verweigert.
Lisbeth und Jan Rhoden mit ihrem Huntje unterm Weihnachtsbaum. Jan, so wurde mir erzählt, habe früher bei einem Bauern in Potshausen gearbeitet. Dort habe es ein Unglück mit einem Pferd gegeben. Welche Knochen gebrochen waren, ist nicht mehr bekannt. Jan konnte nun nicht mehr weiterarbeiten. - Lisbeth Schmidt war als Haushaltshilfe in ldafehn angestellt. Irgend jemand sagte dann zu ihr: "Du, ik hebb `n Mann vör di", aber Jan wolle sich nicht so recht erklären. "Laot uns man dat Wark binanner smieten", hieß es eines Tages, und sie heirateten auf dem Standesamt in Barßel. Jan und Lisbeth trugen fortan gemeinsam jahrelang die Zeitungen aus, bei jedem Wetter im Winter und im Sommer. |
Für sie gibt es keinen Gänsebraten, und die güldenen Geschenke unterm Weihnachtsbaum fehlen auch. Ich meine nicht Maria und Joseph, sondern Tipp und Tapp. Wir sehen sie täglich. Früher ging Fritz voraus und Lissi folgte. Jetzt schreitet Lady Di ein paar Schritte vor Prinz Charles, der sein rechtes Bein leicht nachzieht. Wie Hänsel und Grete stehen sie vor der Telefonzelle im Untenende. Vielleicht fragt sich der eine oder andere Leser, wie die beiden Weihnachten feiern?
Christian Schmidt lebte auch in Holterfehn, zuerst mit seiner Mutter Maria zusammen, dann allein. Er wollte keine Hilfe haben. Als die NS-Frauenschaft einmal bei ihm saubermachte, schimpfte er noch wochenlang wie ein Pferdekutscher. Radfahren konnte er nicht, aus diesem Grund trug er die Zeitungen über weite Strecken zu Fuß aus. Davon hatte er riesige Hühneraugen, die er einfach mit einem Lappen umwickelte und dann größere Holzschuhe anzog. Der Weihnachtsbaum stand bis Ostern auf dem Tisch, so wird erzählt. |
Neulich hieß es in den deutschen Zeitungen, daß in Deutschland sechs Millionen Arme leben. Das sind ungefähr zehn Prozent unserer Bevölkerung. Für den Landkreis Leer bedeutet das: Wir hätten mitten unter uns so um die 14 000 Menschen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind.
Wir kennen nur wenige dieser Menschen. Nicht jeder läuft täglich von Ost- nach Westrhauderfehn und zurück. Viele verkriechen sich in ihren vier Wänden. Sie fallen kaum auf, keiner nimmt Notiz von ihnen. Fast alle wollen nicht gestört werden. Sie wollen keine Hilfe und keine Almosen. Sie sind "eigen".
Von Bertus Pörtner gibt es ein oder zwei Fotos. Dieses ist meines Wissens bislang nicht veröffentlicht. Es zeigt ihn mit seinen bekannten Handstöcken vor der Fahrradwerkstatt von Christian Stapelfeld im Untenende von Westrhauderfehn. Im Hintergrund das "Kaufhaus zur Post" (heute ParkpIatz) Es könnte ein Foto von Lambertus Deepen sein, aber das ist nur eine Vermutung. Als Datum ist am unteren Rand 1923 angegeben. Bertus Pörtner lebte "auf Hahnentange". Seine Frau Lisbeth verstarb früh, danach "versorgte" ihn seine Schwester. Bertus Pörtner, so wird erzählt, konnte Unmengen Nahrung auf einmal verschlingen. Bei drei Potten halbgarer Grütze soll er fast geplatzt sein, so daß die Leute schnell einen Sack mit viel Tau um ihn herumgebunden haben. Dr. Trepte wollte immer mal seinen Magen untersuchen, so hieß es. Eine ähnliche Geschichte wird auch von Wessel Nimmersatt Neemann aus der 3. Südwieke überliefert. Bertus Pörtner tanzte auch gern "Hacketoh, Hacketoh" immer in der Runde, bis er schwindlig wurde. |
Bei einigen ist es Altersstarrsinn. Bei anderen "fehlt etwas". Im Ostfriesischen heißt das dann: "He hett'n SIag mit'n natten Sack hatt; se is neet heel gaar; he is slapp andreiht; se is blot halvgaar; he is'n bietje slecht wegkomen; se is to fröh to't Nüst utfallen; he hett'n Schruuv lös; `t spökt bi hör in de Bovenkamer; he hett Bree in de Brägen; se kann nix mehr as neerkauen; he is'n leeglopen Fatt." Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
Bubi mit seiner Schwester Jantje(line) im Winter hinterm Haus. Wer ihn fragte "Wo laot is dat?", erhielt immer die gleiche Antwort: "Dat is nu twalf." |
Solche Menschen wurden von Kindern gern gehänselt. Den älteren Fehntjern ist Bertus Pörtner noch bekannt. Für einen Groschen tanzte er und sang: "Lott is doot, Lott is doot und Jule liggt in`t Starben." Es war gar nicht so leicht, den vollständigen Text dieses Liedes zu finden. Frank Groeneveld, Idafehn, fand heraus, daß es ein Tanzlied für zwei Personen ist. Für alle Heimatfreunde wollen wir dieses von Volkstanzgruppen gesungene und getanzte Lied vollständig wiedergeben:
"Sie: Een, twee, dree, veer, in Hoppensack, in Hoppensack, in Hoppensack is Füür! Er: Fiev, sess, söbn, acht, de Moder pust de Lamp ut, denn seggt wi goode Nacht. Sie: Lott is doot, Lott is doot, Jule liggt in Graben! Er: Laat er man, laat er man, se kummt woll weer na baben.
Sie: Een, twee, dree, veer, in Hoppensack, in Hoppensack, in Hoppensack is Füür! Er: Fiev, sess, söbn, acht, de Moder pust de Lamp ut, denn seggt wi goode Nacht. Sie: Lott is doot, Lott is doot. Jule liegt in't Starben! Dat is good, dat is good, denn givt't wat to arben."
Auf diesem Bild kann jeder gut erkennen, daß Jan die Schuhgröße 56 hatte. "He leep bedrövt", und wenn er mit dem Rad die Zeitungspakete holte, hatte jeder das Gefühl, das könne nicht gutgehen, so schlingerte das Rad mit seinem Fahrer. Das "Huntje" war immer bei den beiden zu finden. Lisbeth und Jan Rhoden wohnten in Holterfehn. |
Auch Herbert Brandt aus Steenfelderfeld wurde oft gefragt: "Kannst du danzen?", und von Rikus und Mareke ist bekannt, daß letztere gern in die "Rollenden Tonnen" gesteckt wurde, wenn Frühjahrs- oder Herbstmarkt auf dem Fehn war. Ansonsten taten sie niemandem etwas zuleide. Sie liefen von Steenfelderfeld bis nach Völlen zum "MelkbeddeIn", und wenn sie irgendwo um die Ecke kamen, rief der Bauer: "Moeder, do de Küssens van de Stohlen off!"
Böhner-Greetje verkaufte Struukbessens und Böhners. Erstere wurden aus Birkenreisig gefertigt, letztere aus Pijüntgras oder Heidekraut. Hannes Freese, "Mal Hannes", wie er hieß, lebte am Krummspät in Flachsmeer in einem alten Eisenbahnwaggon. Er bekam von seiner Frau einen Zettel, was er zusammenbetteln sollte.
Den Kinderreim "Gröter, Klöter, Glockenstöter" wird heute in Breinermoor kaum noch jemand kennen. Das Küsterehepaar Gröter übernahm alle anfallenden Arbeiten: die Glocken läuten, die Öfen heizen, den Blasebalg für die Orgel treten und die Gräber ausheben. Johann B. Gröter hatte Schuhmacher gelernt. Er gerbte seine Felle selbst in Gruben, die er im Garten grub. Seine Frau Johanne, geb. Loger, hatte leider den ostfriesischen Reinlichkeitsfimmel nicht geerbt, jedenfalls wurde erzählt, daß jeder die Türen offen ließ, um nicht zu ersticken. Viel Besuch oder Kundschaft kam nicht, denn Oma Gröter war laut und schimpfte ständig.. Am 5. Februar 1927 hieß es im Leerer Anzeigenblatt: "Ein seltenes und eigenartiges Jubiläum: Gröter kann auf 60 Jahre Kirchendienst zurückblicken. Er hat von seinem neunten Lebensjahr an zunächst in Gemeinschaft mit seinem Vater, später alleine den Kirchendienst versehen." Aufnahme von Bernhard Grünfeld. |
"Not un Oller maken eensam" heißt es im Plattdeutschen. "Wenn de Not in de Dör kiekt, flüggt de Leevde to't Fenster ut. Hier in Huus is groode Not, dar lopen de Musen in't Broodschapp sük doot. Se hebben kien Bedd of Bulster, kien Pott of Pann, se mutten up de Hungerpoten sugen. Se hett nix um't Liev un nix in't Liev, se hett kien Schuut vör't Liev und kien Hemd um de Mors."
Bubi war bei den Kindern sehr beliebt. Er spielte mit ihnen, hörte immer zu und paßte auf, daß niemand in die Wieke fiel. Diese Aufnahme von Andreas de Buhr wurde vom Fotografen Winter gemacht, der nach dem Krieg in Ostrhauderfehn eine Zeitlang ein "Atelier" unterhielt. |
Ich könnte hier noch die Geschichte von "Oll WilIm" erzählen, der ganz bewußt anders leben wollte als "Otto Normalverbraucher". Ich könnte erzählen von der "Herberge zur Heimat", wo die Tippelbrüder für eine Nacht ein Unterkommen finden. Ich könnte erzählen von Paula, die so gutmütig ist, daß sie alles gleich verschenkt, was ihr gegeben wird, weil sie es angeblich gar nicht benötigt. Mittlerweile zerfällt ihr Hinterhaus, sie kann nicht mehr zum "Gemack" kommen. Wasser- und Stromanschluß fehlen, der Schornstein ist zerfallen, im Torfkasten gackern zwei Hühner.
Paula will das Haus nicht verlassen. Eines Tages werden die Dachsparren verrottet sein. Paula sitzt im Hörn und schaut mit leerem Blick durchs Fenster. Alles soll so bleiben, wie es war.
Ich habe mich oft gefragt, warum im Neuen Testament Maria und Joseph nur einmal vorkommen, nämlich bei der Geburt des Jesuskindes im Stall zu Bethlehem. Danach wird andeutungsweise noch einmal die Mutter erwähnt. Aber auch Maria und Joseph sind alt geworden. Wie haben sie ihre letzten Lebensjahre verbracht? Darüber erzählen uns die vier Evangelisten nichts.
Dies ist Oll WilIm mit seinen vielen Taschen. Er machte für die Landbevölkerung kleine Besorgungen in Leer, was sehr angenehm war, da man nicht selber den beschwerlichen Weg in die Kreisstadt hin- und zurücklegen mußte. Wir haben Oll WilIm schon bei unserer Bahnhofsgeschichte Ihrhove erwähnt und werden demnächst noch eine Geschichte über ihn erzählen. |
Zur Verfügung gestellt von Tini Hoffmann, Hanni Kramer, Bernhard Müsker (3), Erna Taute und Gemeindearchiv Westoverledingen.
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