[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 07.12.1989

Im ersten Gang zum nächsten Patienten
Das Haus des Doktors ist mit Erinnerungen gefüllt

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Im ersten Gang zum nächsten Patienten
Das Haus des Doktors ist mit Erinnerungen gefüllt

Als das Fehn 1769 offiziell genehmigt war, hatten schon die ersten Siedler ihre einfachen Pullenhütten gebaut. Niemand kann sich heute vorstellen, wie es sich in diesen Behausungen leben ließ. Nur mit Grauen darf man daran denken, was dort geschah, wenn ein Kind geboren wurde.

Hundert Jahre später war das schon ein bißchen anders. Es gab in Westrhauderfehn bereits eine Apotheke, und auch einige Ärzte konnten hier ihr Geld verdienen. Zwar gab es noch keine Krankenkassen im heutigen Sinn, aber allein die Anwesenheit eines "Fachmanns", der Krankheiten beheben konnte, gab größere Sicherheit im Alltag.

Jürgen Graef beliebt zu rezitieren: Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum still und verklärt wie im Traum. Es war des Nachts elf Uhr zwei. Und dann kam ich um vier morgens wieder vorbei, und da träumte noch immer das Tier. Nun schlich ich mich leise, ich atmete kaum, gegen den Wind an den Baum und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips. Und da war es aus Gips. Der Naturliebhaber Graef behandelte auch Tiere; hier gipst er das gebrochene Bein eines Kitzes ein.
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Jürgen Graef beliebt zu rezitieren: Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum still und verklärt wie im Traum. Es war des Nachts elf Uhr zwei. Und dann kam ich um vier morgens wieder vorbei, und da träumte noch immer das Tier. Nun schlich ich mich leise, ich atmete kaum, gegen den Wind an den Baum und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips. Und da war es aus Gips. Der Naturliebhaber Graef behandelte auch Tiere; hier gipst er das gebrochene Bein eines Kitzes ein.

Berühmt sind die Sanitätsräte Dr. Geißler aus Collinghorst und Dr. Trepte sowie der "Modearzt der Schikeria", Dr. Nehmer. Über sie und vor allem über Dr. Trepte, gibt es eine ganze Anzahl amüsanter Döntjes, die leider niemand aufgeschrieben hat. Nach dem 1. Weltkrieg, als alle Militärärzte ,,arbeitslos" geworden waren, kamen einige neue Mediziner zum Fehn. Die Versorgung der Bevölkerung wurde besser.

Mittwochs war im Evangelischen Krankenhaus zu Westrhauderfehn der sogenannte OP-Tag. Ein Blinddarm, der tiefsitzende Furunkel oder ein Leistenbruch, alles wurde ohne große Apparatemedizin erledigt. Als Narkosemittel genügte das Lachgas. Die Kopf- und Wundschmerzen waren nach ein paar Tagen vergessen. Später wurde das Krankenhaus zur Fehntjer Entbindungsstation. Hier wurde Ulrike Graef im Jahr 1956 geboren. Um Berta Graef geb. Witzak stehen für das damals eingeführte Erinnerungsfoto von links: Oberschwester Emma, Hebamme Lithmate, die unvergessene Schwester Emmchen und Schwester Rita.
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Mittwochs war im Evangelischen Krankenhaus zu Westrhauderfehn der sogenannte OP-Tag. Ein Blinddarm, der tiefsitzende Furunkel oder ein Leistenbruch, alles wurde ohne große Apparatemedizin erledigt. Als Narkosemittel genügte das Lachgas. Die Kopf- und Wundschmerzen waren nach ein paar Tagen vergessen. Später wurde das Krankenhaus zur Fehntjer Entbindungsstation. Hier wurde Ulrike Graef im Jahr 1956 geboren. Um Berta Graef geb. Witzak stehen für das damals eingeführte Erinnerungsfoto von links: Oberschwester Emma, Hebamme Lithmate, die unvergessene Schwester Emmchen und Schwester Rita.

ldafehn, das damals noch zum Oldenburger Land gehörte, mußte auf das Ende des 2. Weltkriegs warten, bis sich hier 1948 ein Arzt niederließ. Richtig gesagt - es war eine Ärztin, und ich könnte nicht einmal sagen, ob sie die erste oder zweite ,,Frau Doktor" in Ostfriesland gewesen ist. Es ist auch müßig, darüber zu schwadronieren, denn die Idafehner waren damals noch Oldenburger, und Frau Doktor Hildegard ,,Auguste" Czinczoll auch nicht lange in diesem Fehnort.

Rittmeister ,,Pan" Krinke (links), der mit den Graefschen Islandponys in der Schule ldafehn-Nord einen richtigen Reitschulbetrieb aufzog Die zehnspännige Kutschvorführung war auf jedem Turnier eine besondere Schaunummer. - Auf dem Ponyhof in Holterfehn erholte sich der arbeitsame Mediziner Jürgen Graef gelegentlich von den Alltagssorgen. Er betrachtete die umliegende Natur, philosophierte über das vom Vater übernommene Naturverständnis eines Johann Wolfgang von Goethe und erging sich in vielerlei ökologischen Gedanken über das Leben einer gesunden Erdkrume lange bevor es die ,,Grünen" gab.
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Rittmeister ,,Pan" Krinke (links), der mit den Graefschen Islandponys in der Schule ldafehn-Nord einen richtigen Reitschulbetrieb aufzog Die zehnspännige Kutschvorführung war auf jedem Turnier eine besondere Schaunummer. - Auf dem Ponyhof in Holterfehn erholte sich der arbeitsame Mediziner Jürgen Graef gelegentlich von den Alltagssorgen. Er betrachtete die umliegende Natur, philosophierte über das vom Vater übernommene Naturverständnis eines Johann Wolfgang von Goethe und erging sich in vielerlei ökologischen Gedanken über das Leben einer gesunden Erdkrume lange bevor es die ,,Grünen" gab.

Es kam Jürgen Graef, ein Doktor ohne Dr. vor seinem Namen, ein Arzt, der seine Examina in Kiel und Rostock abgelegt hatte, der sogar einen akademischen Schmiß im Gesicht aufzuweisen hatte, obgleich er keiner schlagenden Studentenverbindung angehört hatte. Ein Mediziner, der fünf Jahre im Kreiskrankenhaus Preußisch-Eylau gearbeitet hatte. Wenn er das erzählt, gucken die Zuhörer gelangweilt in die Ecke, denn sie wissen nicht, wo das liegt: Preußisch-Eylau. Heute wird der Ort mit kyrillischen Buchstaben geschrieben, weil er etwas südlich von Königsberg im ehemaligen Ostpreußen liegt, und heute zu Rußland gehört.

Auch Fräulein Czinczoll, die aus Wien kam, hatte dort in Preußisch-Eylau am Krankenhaus gearbeitet, und als sie 1954 ihre Praxis bei Ahlers in ldafehn aufgeben wollte, fragte sie ihren ehemaligen Kollegen, ob er sich nicht von Wilhelmshaven losreißen könnte. Dort war er nämlich nach dem Kriege gelandet. Zuerst noch als Lagerarzt in einem Flensburger Flüchtlingslager, dann als Heimarzt im Rote-Kreuz-Krankenhaus Wilhelmshaven.

Fräulein Doktor nahm ihr Hütchen und die FeIljacke und verzog nach Westerstede. Der neue Doktor übernahm den Medizinschrank (,,Tätowierschapp") und die Sprechstundenhilfe Johanne Bohlsen.

Die Fliesenwand aus dem Verlaatshaus von Mittegroßefehn ist ein Blickfang im Hause Graef.
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Die Fliesenwand aus dem Verlaatshaus von Mittegroßefehn ist ein Blickfang im Hause Graef.

Diese erste Hilfe nach dem Krieg - Dr. Koken, Dr. Visher und Dr. Bauwinus Smidt hatten keine! - hatte schon einiges mitgemacht, denn als das Fräulein Doktor anfing bei Harms in ldafehn, da war die Kneipe das Wartezimmer, und ordiniert wurde im Clubzimmer. Hinter einer Schräge hatte Fräulein Doktor ihr ,,Schlafzimmer" - das waren Zeiten!

Dort bei Harms fand auch seine erste Entbindung statt: der neue Doktor noch im Hintergrund, als das Fräulein Doktor den kleinen Johannes Harms fleißig schreien ließ. Dann aber war der neue Doktor auf sich selbst gestellt. Den Führerschein hatte er noch in Wilhelmshaven gemacht, um einen alten Buckeltaunus fahren zu können.

Und noch einen Vers: Herr Löffel und Frau Gabel, die zankten sich einmal. Der Löffel sprach zur Gabel: Frau Gabel, halt den Schnabel, du bist ja bloß aus Stahl! Frau Gabel sprach zum Löffel: Du bist ein großer Töffel mit einem Gesicht aus Zinn, und wenn ich euch zerkratze mit meiner Katzentatze, so ist eure Schönheit hin! Hier untersucht Graef das Ohr eines Patienten.
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Und noch einen Vers: Herr Löffel und Frau Gabel, die zankten sich einmal. Der Löffel sprach zur Gabel: Frau Gabel, halt den Schnabel, du bist ja bloß aus Stahl! Frau Gabel sprach zum Löffel: Du bist ein großer Töffel mit einem Gesicht aus Zinn, und wenn ich euch zerkratze mit meiner Katzentatze, so ist eure Schönheit hin! Hier untersucht Graef das Ohr eines Patienten.

Die Autos und der Doktor, das ist eine Geschichte so lang wie die Fehntjer Wieken. Ob es der gebrauchte Ford für 500 neue DM war oder der 15 Jahre alte Steyr mit Porsche-Motor und echten Blattfedern von Prof. Schede aus Leipzig, der nach der Flucht als ,,Wirbelsäulenpapst" in Wilhelmshaven praktizierte - dieser Wagen hatte ,,nur" 600 DM gekostet - , bis zu seinem ersten ,,Käfer" mußte der neue Doktor noch viel arbeiten, denn der kostete damals 3200 DM!

Der Doktor und die Autos, das ist ein Kapitel voller Komik. So mancher Automechaniker raufte sich die Haare, wenn Jürgen Graef wieder einmal anrief, daß sein Wagen irgendwo verbeult herumstand. Zum Glück hatte der Idafehner Arzt ein Einsehen und überließ die komplizierte Technik einem gewieften Kraftfahrzeuglenker wie Peter Rotmann oder ,,Schwester Hansi". Kein noch so gutes Auto hätte eine Fahrt von Ramsloh bis nach Strücklingen immer im 1. Gang (!) ausgehalten. Kein noch so robuster PKW konnte die Kopfsteinpflaster und die Moorlöcher auf den Sandwegen unbeschadet überstehen, wenn der neue Doktor mit Vollgas zum nächsten Hausbesuch brauste.

Ostrhauderfehn, 21. Januar1957: Gerd Prahm in der 2. Südwieke ist schwer erkrankt. Doktor Graef kommt - und bleibt stecken. Mit seinem Trecker zieht Wilke Junker ihn aus dem verschlammten Weg. Bäcker Friedrichs (Foto) versucht ebenfalls, mit dem Auto wegzukommen. Auch er bleibt stecken, und erneut ist die Hilfe der Nachbarn erforderlich. Von rechts: Wilke Junker, Eduard Friedrichs, Karl Böttcher, Hermann Lüken und Hans Abels. Der Kranke Gerd Prahm wurde später auf einer Trage bis zum Middendorfweg gebracht, wo der Krankenwagen vorsichtshalber stehen geblieben war. - Wer dieses Bild länger betrachtet, der kann verstehen, daß die Ostrhauderfehner stolz sind auf ihre heutigen Teerstraßen.
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Ostrhauderfehn, 21. Januar1957: Gerd Prahm in der 2. Südwieke ist schwer erkrankt. Doktor Graef kommt - und bleibt stecken. Mit seinem Trecker zieht Wilke Junker ihn aus dem verschlammten Weg. Bäcker Friedrichs (Foto) versucht ebenfalls, mit dem Auto wegzukommen. Auch er bleibt stecken, und erneut ist die Hilfe der Nachbarn erforderlich. Von rechts: Wilke Junker, Eduard Friedrichs, Karl Böttcher, Hermann Lüken und Hans Abels. Der Kranke Gerd Prahm wurde später auf einer Trage bis zum Middendorfweg gebracht, wo der Krankenwagen vorsichtshalber stehen geblieben war. - Wer dieses Bild länger betrachtet, der kann verstehen, daß die Ostrhauderfehner stolz sind auf ihre heutigen Teerstraßen.

Zur Verfügung gestellt von Eduard Friedrichs, Ramsloh

Am 1. Oktober 1954 übernahm Jürgen Graef die Praxis. Ein Jahr lang unterschrieb er die Rezepte ,,in Vertretung", dann erst hatte die Ärztekammer trotz der vielen Mitbewerber ein Einsehen, und Graef erhielt die Vollstelle. Damals im Oktober mußte er schon an seinem zweiten Arbeitstag im Evangelischen Krankenhaus Westrhauderfehn einen Blinddarm operieren. Ja, dieses Krankenhaus (heute Reilstift) war damals eine große Hilfe für die Ärzte. Nicht selten standen die polarsilbrigen VW 1200 von Dr. Koken, Dr. Wunder und Pastor Janssen neben dem vom Idafehner Arzt Jürgen Graef. Er, der Dickschädel aus Schleswig-Holstein mit dem mütterlichen Erbteil westfälischer Sturheit, operierte in diesem kleinen Krankenhaus mit Dr. Helming aus Langholt einfache Leisten- und Knochenbrüche, entfernte entzündete Blinddärme und verhalf vielen Kindern zu ihrem ersten Schrei an ostfriesischer Luft.

Heute lebt der Doktor inmitten seiner Erinnerungen. Die Fliesen aus dem Verlaatshaus von Mittegroßefehn, der Stuhl vom Geheimen Sanitätsrat Dr. Johann Nikolaus Nehmer, die Anrichte aus dem Hümmlinger Hof von Bockhorst, die Uhr von den Eltern der Hebamme Lithmate, die ersten Wartezimmerstühle - noch mit großdeutscher Vergangenheit - von Eilert Schmidt, der Handstock aus dem Boxerkrieg von Rösken Stratmann - all dies sind Erinnerungen.

Ob Wilhelm Busch, Joachim Ringelnatz oder Christian Morgenstern, Jürgen Graef liebt sie alle: Ich bin ein armer Schreiber nur, hab weder Haus noch Acker, doch freut mich jede Kreatur, sogar der Spatz, der Racker! Zwar selten am Schreibtisch zu finden, doch auch für Graef eine notwendige Arbeit: das Ausstellen eines Rezeptes.
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Ob Wilhelm Busch, Joachim Ringelnatz oder Christian Morgenstern, Jürgen Graef liebt sie alle: Ich bin ein armer Schreiber nur, hab weder Haus noch Acker, doch freut mich jede Kreatur, sogar der Spatz, der Racker! Zwar selten am Schreibtisch zu finden, doch auch für Graef eine notwendige Arbeit: das Ausstellen eines Rezeptes.

Vielleicht hat der eine oder andere den ersten Idafehner Mediziner manchmal nicht richtig verstanden, wenn der dem leicht Erkrankten Salzwasser von der Nordsee oder eine Diät aus biologischem Garten ,,verschrieb". Viele seiner Patienten werden ihn aber nie vergessen, denn der Doktor kam immer, auch wenn das Haus von ,,Geistern" verhext und die einzige Zuwegung abgrundtief vermuddert war.

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