Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze
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Hunderte von Schulbildern könnte der Fehntjer Kurier veröffentlichen. Tausende von Namen wären aufzuschreiben. In diesen Tagen haben die Berufs- und Hobbyfotografen Hochkonjunktur. Nicht im April, wie früher üblich, sondern diesmal erst im September müssen die Abc-Lehrlinge, die i-Männchen, Frischlinge oder wie sie sonst noch genannt werden, ihren schweren Gang in die Schulen antreten.
"Erinnerung an den ersten Schulgang am 16.4.1925" steht hinten auf diesem Foto, daß ein Berliner Fotograf von Hannchen Marschallek aufnahm. Die Schultüte ist aus den Städten erst spät nach Ostfriesland gekommen. |
"Tausend Jahre Schule" ist der Titel eines Buches, das die Kulturgeschichte der Lernens beschreibt. Dabei erscheint es einigen unserer Leser wie gestern, als sie selbst eingeschult wurden. Die Mütter und Väter unserer diesjährigen Erstkläßler sind vor ungefähr 25 Jahren in die Schule gekommen, als es in Deutschland wieder aufwärts ging. Da weiß die Oma aber noch anderes zu erzählen, denn nach dem 2. Weltkrieg gab es kaum etwas zu kaufen. Die Schultüten waren klein, und der Inhalt bestand aus ein paar selbstgebackenen Keksen.
So um 1935/36 mußte Rösko Prahm aus Ostrhauderfehn in der Schule 1 dieses Alphabet lernen. ,,Das ist ja schlimmer als Algebra", werden unsere heutigen Kinder denken. So schwer war das nun auch wieder nicht, diese angeblich ,,deutsche" Schrift schreiben und lesen zu lernen. |
Ganz anders verlief der erste Schultag im 3. Reich. Da begrüßte ein zackiger Uniformierter die Schulanfänger und Mütter mit erhobenem Arm. Ab und zu ertönte Sirenengeheul. Die Kinder hatten plötzlich schulfrei. Zehn Jahre früher lernten die Abc-Schützen die ,,deutsche" Schrift schreiben, die heute keiner mehr lesen kann. Die wilden zwanziger Jahre gaben den Künstlern und Schriftstellern in den Städten das Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit. Unabhängiger wurden auch die Schulen, die sich aus der Führung der Kirche lösen konnten. Jetzt hatte nicht mehr der Dorfpastor die Kontrolle, sondern ein staatlicher Schulrat. Das ist alles so schnell gegangen, daß unsere heutigen Kinder gar nicht mehr verstehen, was die Uroma da erzählt vom ,,Sedanstag" und der ,,Judikafeier"
Die Fibel und die anderen Schulbücher wurden in jeder Familie weitervererbt. Luise Rosenboom aus Backemoor trägt schon den kurzen Bubikopf mit Tolle und Haarschleife, wie es nach dem Krieg üblich war. |
Auch die heutige Schultüte war damals fast unbekannt. Es wäre vermessen, an dieser Stelle die ,,Kulturgeschichte der Schultüte" aufzuzeigen. Zwei Hinweise mögen genügen, um in das Thema einzuführen. Thomas Mann beschreibt in seinem Roman ,,Buddenbrooks" die Feier anläßlich der Geburt von Clara im Jahre 1838: ,,Der Storch, ein Storch mit braven Muskeln entschieden, hatte außer dem Schwesterchen noch allerlei Prachtvolles mitgebracht: eine neue Schulmappe mit Seehundsfell für Thomas, eine große Puppe mit wirklichem - das war das Außerordentliche - Haar für Antonie, ein buntes Bilderbuch für die artige Klothilde, die sich aber still und dankbar fast ausschließlich mit den Zuckertüten beschäftigte, die gleichfalls eingetroffen waren, und für Christian ein komplettes Kasperle-Theater mit Sultan, Tod und Teufel."
,,Zum ersten Schulgang" erhielt Magda Duis aus der Rhauderfehntjer Dosewieke am 29.3.1940 diese riesige Schultüte. |
Dieser Hinweis auf die Zuckertüten, die es bei der Geburt eines Kindes gab, steht in der Volkskunde am Anfang einer Entwicklung, die ihren Ursprung in Thüringen und Sachsen hatte. 1817 wird die Schultüte in Jena und 1820 in Dresden erwähnt. Noch bis in die heutige Zeit soll sich in der jetzigen DDR der Brauch gehalten haben, einen Zuckertütenbaum im Schulgarten, auf dem Boden oder im Keller des Lehrerhauses ,,wachsen" zu lassen.
Spielen auf dem Schulhof, daran knüpfen sich auch heute noch viele herrliche Erlebnisse. Links Gerta Prahm und mit der Schleife Frieda Müller. Im Hintergrund Frieda Sandrowski auf dem Ostrhauderfehner Schulhof an der Hauptstraße. |
In Ostfriesland kennen die älteren Menschen noch den Pflaumenbaum, der angeblich auf dem Schulboden stand. Von ihm kamen die süßen Trockenpflaumen, die der Lehrer in den ersten Tagen an seine Schützlinge verteilte. Das Kind mußte nach vorn zum Pult kommen, mit der Hand ein nicht vorhandenes Schwungrad drehen und ,,rrrrrr" sagen, dann erhielt es die Leckerei. Ob dieser Brauch aus Schlesien und Thüringen abgewandelt zu uns nach Ostfriesland kam oder ob die holländischen ,,stoetboomkes" vielleicht über die Ems zu uns gekommen sind, ist bislang nirgends untersucht worden. Wahrscheinlich hat der Brauch einen noch viel früheren Ursprung.
Blick in die Rhauderwieke. Noch Anfang 1950 ist der ländliche Charakter von Rhaudermoor deutlich zu erkennen. An Karl Heinz Nußwaldt und der Bäckerei von Berend Backer vorbei blickt man zu Plümers Gasthof. |
Martin Luther schreibt am 19. Juni 1530, also vor über 400 Jahren, an seinen damals vierjährigen Sohn Hans unter anderem aus Coburg: ,,Ich weiß einen hübschen, lustigen Garten, da gehen viele Kinder innen, haben güldene Röcklein an und lesen schöne Äpfel unter den Bäumen und Birnen, Kirschen, Spillinge und Pflaumen, singen, springen und sind fröhlich; haben auch schöne, kleine Pferdlein mit güldnen Zäumen und silbernen Sätteln. Da fragte ich den Mann, des der Garten ist: wes die Kinder wären. Da sprach er: "Es sind die Kinder, die gerne beten, lernen und fromm sind".
Ohne Schultüte, denn die war damals noch nicht üblich, wird Elma Schier im Garten fotografiert. Das Schwämmchen für die Schiefertafel baumelt aus dem Tornister heraus. |
Diese Geschichte weist vielleicht auf Gebräuche und Sitten hin, die heute längst vergessen sind. Im ,,Pädagogischen Lexikon" von 1912 steht: ,,Die unpädagogische Sitte, ihnen den schweren Schulanfang durch die riesige Schultüte leichter machen zu wollen, die der Lehrer den Schulneulingen im Auftrage ihrer Eltern oder Taufpaten angeblich als Früchte seines im Keller stehenden Zuckerbaumes schenken muß, findet sich nur noch vereinzelt."
Nach dem 2. Weltkrieg fand die Schultüte ihren Weg bis ins kleinste Dorf. Julia Schewe von der katholischen Volksschule Langholt läßt sich mit ihrer schon geöffneten Tüte von der Tante fotografieren. |
Das kann so nicht stimmen, denn Karl Reuer vom Schulmuseum in Folmhusen hat aus Emden zwei Fotos erhalten, auf denen Schultüten im Jahre 1923 und 1929 zu erkennen sind. Für den ländlichen Raum dürfte die Schultüte kaum vor 1940 nachzuweisen sein. Wer es besser weiß, sollte unbedingt 04955/ 4989 anrufen, denn Wilmoed Reuer archiviert alles ganz genau. Und es wäre doch schade, wenn eine noch ältere Schultüte von Jan oder Aaltje, von Hinnerk oder Moetje einfach vergessen würde, nur weil sie keiner aufgehoben hat.
Wer fliegt da unter den Wolken? Es ist Mathilde Bron aus Großwolderfeld. Sie brachte dieses Foto mit zu Ihrem Klassentreffen im März. Einer ihrer Mitschüler erinnert sich: ,,Wir mußten uns in einer Reihe an die Wand stellen und die Hände auf den Vordermann legen. Die Augen sollten in die Kamera gucken. So fotografierte ein reisender Lichtbildner jeden einzelnen aus unserer Klasse." Später schnitt der Fotograf die Halbportraits aus und klebte sie in eine ,,Maske", eben dieses Flugzeug, das über eine unbekannte Landschaft fliegt. Solche Fliegerfotos aus der Zeit um 1928/33 sind auch von den Schulen Großwolde, Hahnentange und Rajen bekannt. |
Auf dem Weg zur Schule. Die Erstkläßler der Holterfehner Schule sind von links: Marga Peper, Erna Kramer, Hermann Plaisier, Hermann Kramer, Agnes Lühring und Gerda Heyer. Große Haarschleifen und saubere Schürzen sowie lange Strümpfe waren in den ersten Herbsttagen des Jahres 1936 überall in Ostfriesland üblich. |
Zur Verfügung gestellt von Johanne Poppen (3), Hinrich Reents (2) Mathilde Schmidt, Johanne Meyer, K. H. Nußwaldt. Dora Schewe, Johanne Kramer und Gisela Schmidt
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