[ Fehntjer Kurier ]

Geschichten aus dem Overledingerland

Liebevoll gesammelt und aufs getreulichste nacherzählt von Michael Till Heinze


Fehntjer Kurier vom 23.12.1987

Weihnachten: Hektisch aber mit viel Gefühl

Mit dem "Laubfrosch" durch das Overledingerland

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Weihnachten: Hektisch aber mit viel Gefühl

Oberledingerland. - Es ist wieder einmal soweit: eigentlich nur schwer vorstellbar, daß bereits wieder ein Jahr ins Land gegangen ist, aber der Kalender, die Jahresabrechnungen, die überfüllten Kaufhäuser, die Lichterketten, alles deutet auf Weihnachten hin. Weil der erste Advent recht früh war, konnte man das Gefühl bekommen: Es dauert ja noch etwas. Wir haben Anlaufzeit. Aber überall waren schon die Vorbereitungen angelaufen, die Basarveranstaltungen, die Weihnachtsfeier, die Krippenspiele etc. rechtzeitig in den Griff zu bekommen.


Rhauderfehn (H). - ,,Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen." Dieses Wort ,,Frieden" hören wir jetzt zu Weihnachten sehr oft. Wir wünschen uns eine friedvolle Zeit, also keinen Streit, keinen Haß, keinen Krieg. Immer wieder müssen wir darauf hingewiesen werden, daß aus dem kleinsten Zank ein unbedachter, tödlicher Kampf entstehen kann. Es scheint eine menschliche Schwäche zu sein, Stärke und Macht zeigen zu müssen. - Diese französischen Kriegsgefangenen des zweiten Weltkrieges feiern ihr Weihnachtsfest hinter Stacheldraht auf dem Schulhof in Breinermoor. Ältere Leser werden am Heiligen Abend an eine Zeit zurück denken. in der sie fern der Heimat ihr Weih-nachten feiern mußten. Die jüngeren Familienmitglieder stehen dann oft verständnislos auf, weil ihnen die Tränen der Großeltern peinlich sind. Deshalb haben wir dieses Bild ausgewählt. Versuchen wir, den anderen zu verstehen. Frieden ist nicht selbstverständlich. Wir müssen uns darum bemühen. - Der Fehntjer Kurier wünscht all seinen Lesern ein friedliches Weihnachtsfest.

Foto: Privatarchiv M. T. Heinze

Den meisten von uns ist dabei kaum aufgefallen, daß in Wirklichkeit die ganze Hektik - langsam, aber sicher - uns selbst in den Griff bekam. Weihnachtsfeier, das sind für den Berichterstatter Termine, die sich aneinander reihen, viele finden gar gleichzeitig statt. Eile ist geboten, um rechtzeitig von einem Ort zum anderen zu kommen. Dabei stellen eigentlich diese Feiern für viele Vereine einen gewissen (internen) Höhepunkt dar. Auch die passiven, die fördernden Mitglieder stellen sich zu diesem Fest ein, die Familien können teilhaben, ein Jahresrückblick wird gegeben.

Aber ein Rückblick erfolgt oftmals doch, etwas besinnlich, mit der Frageeinleitung: Wo ist die Zeit geblieben? Und hierbei kommt automatisch die weit problematischere Frage: Was mag denn im nächsten Jahr auf uns, auf den einzelnen Menschen zukommen, was auf den Verein oder die Kirchengemeinde? Fast kann man sicher sein, daß bald alles wieder seinen normalen Gang nimmt. Aber jetzt - und nur jetzt ist es zu entschuldigen - hat man Gelegenheit, in sich zu gehen, den Gedanken nachzuhängen, zu ,,memorieren", eine Besinnlichkeit aufkommen zu lassen. Die Weihnachtslieder verleiten dazu, viele werden an die Kindheit (mit all ihren Träumen und Hoffnungen) erinnert; und wer hat schon diese Melodien vergessen?

Und um nicht bei allen Weihnachtsfeiern nur Zaungast gewesen zu sein, nahm sich der Verfasser des Artikels die Zeit, eine ausführlich "heimzusuchen", sich auch den Gedanken und den Rückblicken ,,auszusetzen". Im Kreis von Bekannten kann man das wohl leichter tun, und so ganz ungünstig war der persönliche Jahresrückblick auch nicht. Aber es stellten sich auch Erinnerungen an Schlagzeilen ein, an Probleme und Sorgen, die man bei anderen Menschen mitbekommen hat, und an Menschen, die man kennenlernte, die man mag. Es ist nun einmal die richtige Stimmung für solche Gefühle, die man selbst vielleicht gern als ,,Gefühlsduseleien" abtun möchte. Aber sie entwickeln sich gerade jetzt besonders gut, wie auch das schlechte Gewissen: Was hätte man in diesem Jahr doch alles anders, vor allem besser machen wollen.

Und unserem kranken Nachbarn. dem wird ein Ständchen gebracht. So soll es sein. Aber ansonsten: Weihnachten ist ein, nein: DAS Familienfest, mit Hochkonjunktur für die Telefonseelsorge. Am Heiligen Abend, dann wenn es noch Tag ist, nimmt man sogar Anhalter mit; ,,schließlich will Weihnachten jeder nach Hause".

Und schon am ersten Feiertag wird Hannes Wader zugestimmt: ,,Langeweile ist aus-gebrochen in der Stadt, kommt angekrochen, und sie hat keine Eile. "Wenn die ganzen Feiertage man schon vorüber wären", wie oft wird dieser Satz schon jetzt gedacht!

Weihnachten, die stille Nacht, schon zu still für uns, leise rieseln die Lieder aus den Lautsprechern der Großkaufhäuser auf uns nieder, setzen sich fest: O du fröhliche Zeit, du besinnliche/hektische/rasende Angelegenheit. Anstiftung zum Insichgehen, zur Nachdenklichkeit, zum Be- und Überdenken, zum Aneinanderdenken, vielleicht zu etwas ,,Menschlichkeit" - diese Tage haben es in sich. Vielleicht sollten wir uns ein paar Sommertage (zusätzlich) aussuchen, um all die guten Wünsche in die Tat umzusetzen, all die guten Vorsätze auszuleben, es wäre dann (rein rechnerisch) das Doppelte vom Guten, was wir jetzt in uns entdecken.


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Mit dem "Laubfrosch" durch das Overledingerland

Spirituslicht für die Wolfschlucht

Rhauderfehn (H.) In der vorweihnachtlichen Zeit gab es an den Schulen verschiedene Theateraufführungen für Kinder. Es sind oft die uns allen bekannten Stücke, die als Weihnachtsmärchen vermarktet werden. Allerdings ist es oft das erste und einzige Mal, daß junge Menschen mit der Welt des Theaters in Berührung kommen. Wenn die Kinder dann zu Hause begeistert von der Aufführung erzählen, kommt der Oma oder dem Großvater die Erinnerung an eigene Erlebnisse aus der Kinderzeit. Da wird dann von einem dunklen Saal erzählt, von Kerzen- und Karbidlicht, von einer oft sich wandelnden Bühne und von den beweglichen Puppen, unseren Marionetten. Man erzählt sich, daß hinten im ehemaligen Bahnschen Saal manchmal eine Frau saß, die sogar mit einem Fernglas jede Bewegung des Herrn Grafen, der Frau Gräfin und ihres Dieners, des Kaspers, verfolgte.

Der Kasper, die wichtigste Figur in jedem Marionettenspiel. Der alte Hugo Genzel erzählte gern, daß sie 150 Jahre alt sei und ein Mönch sie handgeschnitzt habe: Wahrheit und Dichtung eines reisenden Künstlers. (Postkarte, die in den Spielpausen verkauft wurde.)

Der Fehntjer Kurier präsentiert seinen Lesern - den alten junggebliebenen wie der heutigen Generation - auf dieser Sonderseite einige bislang unveröffentlichte Fotos aus dem Nachlaß der Marie Genzel. Sie war eine der fünf Töchter des bekannten Wander-Marionettenspielers Hugo Genzel. Als sie im letzten Jahr verstarb, verwahrte ihre jahrelange Freundin Gudrun Däne den Nachlaß. Wir danken unserer aufmerksamen Leserin für dieses historisch wertvolle Weihnachtsgeschenk.

Marie Genzel lernte in Holland den damals in Westrhauderfehn lebenden Martin Kettner kennen und lieben. 1932 heirateten sie und kauften das Gumpertssche Haus in der Rhauderwieke. Kettner war zu der Zeit beim ,,Fehntjer Blatt/Ostfriesische Rundschau" (de Vries/Kolk) beschäftigt. Einige mögen ihn noch kennen, wie er mit seinem unförmigen Plattenapparat Aufnahmen von einem Fehntjer Haus und der da-vor posierenden Familie machte.

Anzeige aus Fehntjer Blatt "Rundschau" vom 8. April 1933

Als der zweite Weltkrieg vorbei war, zog Vater Hugo Genzel ebenfalls nach Westrhauderfehn. Hier verstarb 1948 seine Ehefrau Luise, die Seele des Wandertheaters. Sie spielte die weiblichen Rollen und konnte sie alle auswendig. Der Prinzipal aber durfte als einziger den Kasper spielen, und zwar mit seiner eigenen, unverstellten Stimme. Normalerweise beherrschten beide, Luise und Hugo Genzel, bis zu sieben verschiedene Stimmen. Auch ihre fünf Töchter spielten immer mit, solange sie noch nicht verheiratet waren.

Hochzeitsbild vom 6. September 1932: In der Mitte das Brautpaar Marie Genzel und Martin Kettner, zwischen den Brauteltern Hugo und Luise Genzel sitzend. Im Hintergrund die Schwestern und Schwager der Braut. Aufnahme Claaßen, Collinghorst

Auf der sehr schweren Bühne gab es für viele Hände ständig etwas zu tun: Marionetten mußten umgekleidet und geschminkt werden. Hintergründe geändert oder verschoben sowie Geräusche und Lichteffekte hergestellt werden. Besonders gruselig war es, wenn die Spirituswattebäuschchen nacheinander angezündet wurden, um die ,,Wolfsschlucht" zu illuminieren. Hinter die Bühne aber durfte niemand, sonst wären ja die Illusionen geschwunden.

Im Jahre 1934 kaufte sich Hugo Genzel einen Opel-Laubfrosch mit dem Kennzeichen Ol-7661. Am Steuer sitzt zwar Mutter Luise, aber weder sie noch er hatten einen Führerschein. Links Tochter Marie und rechts Tochter Luisa. Die abgefahrenen Hartgummireifen des blankgeputzten Schmuckstücks sowie die eisenbereiften Holzräder des Wohnwagens lassen ahnen, welchen Torturen die Autofahrer in der damaligen Zeit ausgesetzt waren.

Kaum jemand kann heute ermessen, wie schwer diese künstlerische Tätigkeit der Genzels war. Allein die Bühne beanspruchte einen eigenen Wagen! Interessant ist, daß der jeweilige Saalwirt vom nächsten Spielort die Pferde stellte, um Wohn- und Bühnenwagen zu holen. Hugo Genzel malte viele seiner Bühnenbilder selbst. Im Halbdunkel eines solchen Saales wirkte das gemalte Loch in einer Mauer so echt, daß der Wirt extra nach draußen ging, um zu sehen, ob seine Wand noch heile war. Sonntag war dann die Premiere. Gewöhnlich blieb man sechs Wochen an einem Ort. 1932 war Westrhauderfehn ein solcher Standort.

Der Wohnwagen mit seinem kuriosen Anbau. Auf der Treppe in seiner Freizeitweste der Prinzipal Hugo Genzel, in der Mitte zwischen den beiden Stangen Tochter Marie, unter ihrer Mutter stehend. Aufnahme um 1926

Viele Frauen basteln heute Puppen. Ob sie manchmal an solch ein Wander-Marionettentheater denken? Diese fahrenden Theaterwagen gab es schon seit dem Mittelalter. Hugo Genzel war stolz darauf, daß seine Puppen aus dem klassischen Bestand des Harzer Marionettenspielers Friedrich Wilhelm kamen.

Es waren oft über 60 cm hohe schwere Holzfiguren an der traditionellen Siebenfadenschnürung. Die Köpfe waren grobförmig und kräftig, die zweiteiligen Figuren hatten Weichgelenke aus Stoff und Leder. Es gab auch Verwandlungsfiguren, die je nach ihrem Einsatz verändert werden konnten. Die Kostüme wurden ständig erneuert und den Stücken angepaßt. Dabei waren genaue Detailkenntnisse nötig, um Haartracht und Schuhwerk gleichermaßen dem Inhalt des Stückes anzupassen. Besonders wichtig war natürlich der Kasper. Der Tradition gemäß war es ein nicht allzu gescheiter, aber keineswegs auf den Mund gefallener lustiger Geselle. Er sprach mit dem Publikum, gab freche Kommentare und kam aus dem größten Schlamassel immer als Sieger hervor.

Der Kasper hat im Ensemble der Marionettenfiguren immer eine Sonderstellung gehabt. Als einziger konnte er in Nußknackerart die Kinnlade bewegen und oft sogar die Augen rollen. Dazu war eine zusätzliche Fadenführung nötig, was die Spielführung nicht erleichterte. Mit dem Kasper hatte der Prinzipal jederzeit die Möglichkeit, in die Handlung einzugreifen und, falls etwas mal nicht so klappte, die Zuschauer durch Einlagen und Improvisationen wieder zu fesseln.

Und unsere Kinder heute?
Wenn demnächst wieder einmal der Verkehrskasper als Marionette die Kinder fragt: ,,Seid ihr alle da?", dann wird ein vielstimmiges Geschrei ,,Jaaaa" die ewigrichtige Antwort geben. Genzels Stücke allerdings waren von hohem Bildungswert. Sogar der Dr. Faustus wurde gespielt. Als Vater Hugo einmal krank war, durfte Mieze (Marie Genzel) den Mephisto spielen. Es gelang ihr vorzüglich. Von nun an durfte sie ihn immer spielen, und noch im hohen Alter konnte sie ihren Part auswendig deklamieren. Die Stücke ,,Genoveva", ,,Medea und Jason" oder ,,Der Verschwender" haben nichts mit der seichten Unterhaltung unserer Tage gemein.

Wer mehr wissen möchte über die Geschichte des Genzelschen Marionettentheaters und den vielen Vorstellungen in unserer Gegend, der sollte einmal hineinschauen in das 1982 erschienene spannende Buch von Karl Veit Riedel, Puppentheater in Oldenburg.

An einem sonnigen Wintertag erkennen wir neben dem Gastwirtssohn Harms Mutter Luise Genzel, die beiden Töchter Marie und Luisa sowie Vater Hugo vor der geöffneten Wohnwagentür. Aufnahme um 1928

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